Frei ist, wer nichts mit sich rumschleppt…

Das fik­ti­ve Phi­lo­so­phen-Inter­view im Red­bul­le­tin Novem­ber 2021

Jean Jac­ques Rous­se­au sagt: Frei ist, wer nichts mit sich rumschleppt.

Die Cara­va­ning-Bran­che boomt wie nie zuvor. Immer mehr Men­schen träu­men von der gro­ßen Frei­heit, im eige­nen Wohn­mo­bil die Welt zu erkun­den. Frei­heit war das gro­ße The­ma des Auf­klä­rungs­phi­lo­so­phen Jean Jac­ques Rous­se­au. In unse­rem fik­ti­ven Inter­view mit dem deut­schen Phi­lo­so­phen Chris­toph Quarch räso­niert er dar­über, wie man als Rei­sen­der wirk­lich frei sein kann.

THE RED BULLETIN: Herr Rous­se­au, Sie waren immer viel auf Rei­sen und haben außer­dem jede Men­ge Gedan­ken dar­auf ver­wen­det, was es eigent­lich mit der Frei­heit auf sich hat. Heut­zu­ta­ge ver­spre­chen sich vie­le Men­schen Frei­heit davon, im eige­nen Wohn­mo­bil durch die Welt zu rei­sen. Kön­nen Sie die­sen Wunsch verstehen?

Jean Jac­ques Rous­se­au: Gewiss, mein Herr, den Wunsch nach Frei­heit kann ich gut ver­ste­hen. Nicht zufäl­lig beginnt mein berühm­tes­tes Buch mit den Wor­ten: „Der Mensch ist frei gebo­ren, doch über­all liegt er in Ket­ten“. Und dabei dach­te ich nicht nur an die Ket­ten der feu­da­lis­ti­schen Gesell­schafts­ord­nung, die zu mei­ner Zeit so vie­le Men­schen in Knecht­schaft hiel­ten und die zu spren­gen das Anlie­gen der Revo­lu­tio­nä­re von 1789 war, die sich auf mich berie­fen. Nein, mehr noch dach­te ich an die Ket­ten, die sich die Men­schen mit ihren Kon­ven­tio­nen und Gewohn­hei­ten selbst schmie­den. Wer immer die­se Ket­ten abstrei­fen will, wird mei­nen Segen haben.

Ver­ste­he, Sie sind ein Freund aller Aus­stei­ger und Indi­vi­dua­lis­ten. Aber wie steht es mit dem Cara­va­ning: Wäre das Ihr Ding?

Ganz sicher nicht, mein Herr. Denn wenn ich die­se Art des Rei­sens näher­hin betrach­te, scheint sie mir denen, die sich ihr erge­ben, kei­nes­wegs die Ket­ten abzu­strei­fen, son­dern neue, unsicht­ba­re Ket­ten anzu­le­gen. Denn sie geket­tet an die Stra­ßen oder Plät­ze, für die ihre Fahr­zeu­ge geeig­net sind. Das schränkt ihre Frei­heit außer­or­dent­lich ein. Wenn man sich frei in der Welt bewe­gen will, dann soll­te man zu Fuß gehen. So wie es die Men­schen taten, bevor ihre zivi­li­sa­to­ri­sche Irr­fahrt begann.

Aber Herr Rous­se­au, beden­ken Sie, wie bequem es ist, sich im eige­nen Wohn­mo­bil zu bewe­gen. Den­ken Sie nur an die schä­bi­gen Spe­lun­ken des 18. Jahr­hun­derts, in denen Sie abstei­gen mussten?

Jaja, so denkt Ihr Bür­ger der moder­nen Welt – und merkt gar nicht, was für einen Unsinn Ihr ver­zapft. Bequem­lich­keit, mein Herr, ist aller Frei­heit Tod. Frei­heit heißt, sich aller Bequem­lich­keit zu ent­äu­ßern: den gan­zen mate­ri­el­len und men­ta­len Kram zurück­zu­las­sen, den man über die Jah­re ange­häuft hat: all das Zeug, was du ver­meint­lich mit dir füh­ren musst; all die Kon­zep­te davon, was du angeb­lich gese­hen haben musst. Weg damit. Je weni­ger du bei dir hast, des­to bes­ser. Zieh die Schu­he aus und geh‘ in den Wald, dann bist du frei.

Machen Sie so etwas?

Aber sicher. Immer wenn ich einen kla­ren Gedan­ken fas­sen will, ver­las­se ich die Kom­fort­zo­ne mei­ner vier Wän­de und gehe nach drau­ßen. Dann lau­sche ich dar­auf, was mir die Natur zu sagen hat. Wür­de ich im Wohn­mo­bil durch die Gegend fah­ren, begeg­ne­te ich immer nur mir selbst – sogar, wenn ich irgend­wo am Nord­kap par­ken würde.

Aber Sie könn­ten dann doch aus­stei­gen und einen Spa­zier­gang machen?

Ver­ges­sen Sie’s mein Freund. Bei einem Spa­zier­gang um sei­nen Cam­per hat noch kei­ner sei­ne wirk­li­che Frei­heit gefun­den. Solan­ge er an das gebun­den bleibt, was er besitzt, liegt der Mensch in Ket­ten – oder steckt im gol­de­nen Käfig sei­nes Wohn­mo­bils. Und je weni­ger er das weiß, des­to unfrei­er ist er.

Jean Jac­ques Rous­sau (1712–1778) war einer der meist ver­folg­ten Män­ner Euro­pas. Egal, was er schrieb: Die Gelehr­ten­welt, die Obrig­keit und die Kir­che waren gegen ihn. Des­halb war er Zeit sei­nes Lebens auf Wan­der­schaft. Frie­den fand er erst in sei­nen letz­ten Lebens­jah­ren, die er mit sei­ner Frau auf einem Berg­bau­ern­hof in Süd­frank­reich ver­brach­te. Dort konn­te er das natur­ver­bun­de­ne Leben füh­ren, nach dem er sich immer gesehnt hatte.