Im Hintergrund der politischen Turbulenzen in Griechenland steht eine epochale Auseinandersetzung um die künftige Weltordnung. Wie sie entschieden wird, lehrt die antike Tragödie.
In Athen wird eine Tragödie gegeben. Doch heißt ihr Held nicht mehr Orest, und auch nicht Ödipus. Ihr Held heißt Alexis Tsipras, und wir sehen ihn in einem Plot, der eines Aischylos oder Sophokles würdig ist: Es ist die uralte Geschichte vom Ringen zweier Mythen, die sich unversöhnlich gegenüberstehen und die nicht miteinander zu vermitteln sind. Es ist ein unauflösliches Dilemma, worin die Helden nur verlieren können. Das ist der Stoff, aus dem Tragödien sind.
So auch heute in Athen. Es geht dort längst nicht nur um Schulden und Kredite. Es geht auch längst nicht nur um europäische Innenpolitik. Es geht vielmehr ums Ganze, auch wenn das nicht alle Protagonisten zu wissen scheinen. Tatsächlich werden wir Zeugen eines Kampfes von epochaler Größe: des Zusammenpralls zweier Weltordnungen, die allein deshalb ›Mythen‹ genannt zu werden verdienen, weil sie die Einrichtung der Welt und das Selbstbild der Menschen mit solcher Macht bestimmen, dass sich nur die wenigsten ihrer Herrschaft bewusst sind – was sich infolge der Darbietung jenes großen Schauspiels aber auf brisante Weise ändern dürfte. Dafür ist das Drama da.
Was wird gegeben? Nun, in der Tragödie ›Tsipras‹ haben wir zum einen jenen Mythos, der in Athen vor mehr als 2500 Jahren geboren wurde: den Mythos der Freiheit und Selbstbestimmung einer Bürgerschaft mit seinem Vertrauen in die Kraft der praktischen Vernunft und seinem Glauben an das Politische. Auf der anderen Seite steht ein Mythos, der im 18. Jahrhundert entstand: der Mythos des Ökonomismus mit seinem Glauben an die segenspendende Macht des Marktes und seinem Vertrauen in die instrumentelle Vernunft. Worüber wir uns lange hinweggetäuscht haben, wird auf der Athener Bühne sichtbar: Die beiden Mythen gehen nicht mehr zusammen. Was einst verheißungsvoll begann, hat sich zum Dilemma gewandelt. Und das ist tragisch.
Beide Seiten haben Recht
Die beiden Mythen gehen nicht zusammen, weil sie in sich geschlossen sind. Sie folgen ihrer eigenen, stringenten Logik, die sich dem anderen Mythos widersetzt. Tsipras verfolgt die Logik des Politischen, er klagt das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein und verweist auf die Prinzipien der Demokratie und wendet sie zur Verblüffung seiner Gegenspieler tatsächlich an. Er ist mitnichten ein Gaukler, sondern wenn überhaupt, dann ein Illusionskünstler, der nur deshalb als Zauberer erscheint, weil er mit den berechenbaren Erwartungen seiner Widersacher spielt. Verblüffend an ihm ist vor allem seine Ehrlichkeit. Er sagt, ihm gehe es um Würde und um Demokratie – und gibt durch das Referendum seinem Volk beides. Wann hat man so etwas zuletzt gesehen. In seinem Weltbild hat er unumwunden Recht.
Dagegen stehen Frau Merkel und Herr Schäuble, die Troika und die Priesterschaft des Marktes, die angeführt wird von der Hohepriesterin Lagarde. Sie pochen auf das ehernste Gesetz der Wirtschaft: Wer Schulden macht, hat diese zu begleichen. Und siehe da: Nach Maßgabe des Mythos, dem sie folgen, haben sie nicht minder Recht. Auch wenn sie nicht mit der schockierenden Offenheit eines Tsipras spielen und immer noch so tun, als seien sie Politiker, so spielen sie ihre Rollen doch vorzüglich: die Rolle der Advokaten und Agenten der globalen Finanzwirtschaft. Im Rahmen dieses Denkens haben sie nicht minder Recht. Genau da liegt das Problem. Es ist wirklich eine Tragödie.
Um sie noch besser zu verstehen, lohnt es, sich kurz den alten Dramen zu-zuwenden. Besonders eignet sich ein Stück des Aischylos. Es heißt „Die Eumeniden“, uraufgeführt zu Athen im Jahre 458 v.Chr. Das Drama schildert den Konflikt zwischen dem alten Mythos der großen Muttergöttin und dem neuen Mythos der Olympischen Götter. Der Held, Orestes, hat den Zorn der Erinnyen auf sich gezogen – der Schergen und Töchter der großen Nacht, der Sachwalterinnen des alten Mythos. Unerbittlich bestehen sie darauf, dass dessen Mord an seiner Mutter nur mit seinem eigenen Blut zu sühnen sei. Kompromisslos pochen sie auf das Grundaxiom ihrer Weltordnung: Wer Mutterblut vergießt, muss dafür büßen. Auf Schuld folgt unausweichlich Sühne.
Die tödliche Kette von Schuld und Sühne
Doch treten den Erinnyen die olympischen Götter entgegen: Apollon und Athene, Sachwalter der Klugheit und Vernunft. Sie drängen darauf, die ewige Kette von Schuld und Sühne zu zerteilen und Orestes freizusprechen, da anderenfalls die Blutspur immer weiterreicht und jedes freie Leben auf der Erde schlechterdings unmöglich wird.
Die Parallele sticht ins Auge. Auch Tsipras ficht nicht einfach für politische Interessen. Er kämpft nicht einfach nur gegen die Troika und gegen Frau Merkel oder Frau Lagarde. Er kämpft gegen den mächtigen Mythos des Marktes, der mit derselben Unerbittlichkeit wie die Erinnyen sein ehernes Gesetz vertritt: Wer Schulden macht, muss sie begleichen. Da gibt es kein Entrinnen. Es ist das alte Mutterrecht in nüchterner Gewandung: Die Kraft, die nährt – wir nennen sie heute Ökonomie – macht ihre Logik machtvoll geltend; und allen, die für diese Logik streiten, gibt sie unbeirrbar recht.
Die Chancen stehen so gesehen schlecht für Tsipras. Zumal da kein Apollon ist, der schützend seine Hand über ihn hält. Und auch eine Athene ist nicht sichtbar, die stolz und klug der Troika der Erinnyen die Stirn zu bieten wüsste. In Russland oder China jedenfalls, findet man sie sicher nicht. Tsipras ist allein auf sich gestellt, mit seinem treuen Helfer Varoufakis, der freilich einem Silen gleicht – einem der wilden und das Chaos liebenden Gesellen des Gottes Dionysos, dem die alten Tragödien heilig waren. Doch dieser dionysische Verwandlungskünstler, der nicht mehr auf dem Esel aber dafür dem Motorrad reitet, ist erstmal fort; doch wird er sicher wiederkommen, ganz am Ende der Tragödie, wenn Dionysos gefeiert wird.
Gleichviel. Für Tsipras steht das Drama nicht zu besten. Er wird wohl tragisch enden, wenn, ja wenn nicht doch zuletzt ein Gott vom Himmel steigt und den Konflikt auf eine gute Weise löst.
Der Geist der Freiheit
Wie aber soll das gehen? Es steigt so leicht kein Gott vom Himmel, doch ist es immer möglich, dass sich ein neuer Geist entfaltet – in unserem Falle nicht einmal ein neuer Geist, sondern kein anderer als der, der einst in Griechenland Europa aus der Taufe hob: der Geist der Freiheit, der Geist der Demokratie, der Geist der Selbstbestimmung. Im alten Griechenland hat er schon einmal das Wunder vollbracht und die Herrschaft des alten Mythos nebst seiner unerbittlichen Gesetzen gebrochen. Nur so konnte sich der Raum des Politischen öffnen, nur so konnte es zu jener unvergleichlichen kulturellen Blüte kommen, die Europa groß gemacht hat.
Der Marktmythus des 20. Jahrhunderts bedroht auf ähnliche Weise das Leben, wie es das Mutterrecht von Schuld und Sühne tat. Seine Logik der Schulden erwürgt ebenso schonungslos das Leben auf Erden – zumal seine ehernen Gesetze nicht nur gebieten, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, sondern mit Zinsen vervielfacht zurückzuzahlen.
Hier liegt die Wahrheit im Kampf des Tsipras. Sein Angriff gilt einer sich verselbständigt habenden Weltordnung, die mit der Macht des Mythos über die Menschheit herrscht. Und seine Verteidigung gilt der vom Untergang bedrohten Weltordnung des Politischen, die vom entfesselten Ökonomismus überwuchert wird. Nicht nur in Athen, sondern auch da, wo jene Gespenster walten, die TTIP oder TISA heißen…
Mythen sind Menschenwerk
Wie wird die Tragödie enden? Tragisch, so ist zu vermuten. Vielleicht aber auch nicht. Denn Mythen, das ist die Lektion, sind trotz allem Menschen-werk. Ihr Geltungsanspruch währt nicht ewig. Und ihre Logik ist vergänglich. Die unerbittlichen Gesetze von Schuld und Sühne, Schulden und Tilgung, sind in Wahrheit nicht unwandelbar. Sie leben nur solange wie der Mythos lebt, der sie ernährt – solange, wie die Menschen ihnen glauben.
Schon einmal starb ein Mythos, der den Menschen in Ketten legte: Heute glaubt niemand mehr an Blutschuld und an Sühne. Wird also auch der neue Mythos sterben, der heute das Gros der Menschheit knechtet? Wird eine neue Zeit beginnen, in der es nicht mehr jedermann selbstverständlich ist, dass eine Schuld mit Zins und Zinseszins beglichen werden muss? Es muss doch wenigstens zu fragen erlaubt sein, ob dieses Gesetz wirklich ewig gelten soll. Die Antwort der Tragödie kann nur lauten: Nein – doch ist es zu ihr noch ein weiter Weg. Es ist der Weg in eine neue Welt.
Athenes Weisheit
Wenn Sie es für unmöglich halten, dass eine neue Welt jemals heraufziehen wird und glauben, dass der Marktmythos alternativlos ist, dann sollten Sie noch mal in die Geschichte blicken. Dort lernen Sie, dass noch kein Mythos auf ewig währte – und viele scheinbar ewige Gesetze und Logiken zerbrochen sind. Und wenn Sie das Kapitel über die Griechen lesen, lernen Sie auch, wie der Wandel möglich wurde: indem das Alte in das Neue aufgenommen wurde. Die göttliche Weisheit von Aischylos’ Athene liegt eben darin, dass sie die alten Muttergottheiten zwar entmachtete, ihnen dabei aber die größten Ehren und Reverenzerweise gewährte – was diese wiederum dazu veranlasste, aus Rachegottheiten zu Segenspenderinnen zu werden: zu Eumeniden.
Wird diese Weisheit auch im heutigen Athen gedeihen? Wird dort ein Geist entstehen, der die Segnungen des Ökonomismus wertschätzt und achtet und gleichzeitig die Macht des Mythos bricht, bevor seine Schuldendynamik die Menschheit ins Verderben treibt. Varoufakis war dafür wohl nicht der Richtige. Der Poltergeist hat seinen Dienst getan. Nun muss ein anderen kommen, um die Troika zu besänftigen. Nun braucht es wohl die Weisheit ein weiblichen Athene, um jene zürnenden Furien zu besänftigen, die Merkel oder Lagarde heißen. Keinen größeren Dienst könnte Athen uns erweisen. Dass es ihn der Welt schon einmal erwies, nährt die Hoffnung, die Tragödie »Tsipras« könne doch noch ein gutes Ende nehmen.