Aufbrechen. Philosophische Inspirationen für Reisende

­­­­Ab dem 9. Dezem­ber ist „Auf­bre­chen” über­all im Buch­han­del erhält­lich – per­fekt für den Gaben­tisch und für all’ jene, die ger­ne ver­rei­sen.
Wer ein von mir signier­tes Exem­plar bestel­len möch­te, kann dies mit die­sem Link tun. 

Und hier kommt als Lese­pro­be ein Aus­zug aus „Auf­bre­chen”.
Ich wün­sche eine wun­der­ba­re Gedan­ken­rei­se.…


SICH EINLASSEN

Das Sich-ein­las­sen ist mehr als Sich-ange­hen-Las­sen. Es ist die Kon­se­quenz dar­aus: Erst lässt man sich von dem, was ist, ange­hen– dann lässt man sich dar­auf ein. Damit beginnt die Kon­ver­sa­ti­on, das Gespräch. Hans-Georg Gada­mer (1900–2002), der zu den gro­ßen wei­sen Män­nern des 20. Jahr­hun­derts zähl­te, sag­te ein­mal dazu pas­send: „Auf alles zu hören, was uns etwas sagt, und es uns gesagt sein zu las­sen, dar­in liegt der hohe Anspruch, der an jeden Men­schen gestellt ist.“ Für unser The­ma kön­nen wir das Wort vari­ie­ren, indem wir sagen: „Uns von allem ange­hen las­sen, was uns begeg­net; und uns auf es ein­las­sen, dar­in liegt der hohe Anspruch, dem zu genü­gen die Meis­ter­schaft des Rei­sen­den aus­zeich­net.“ Das bedeu­tet allem vor­an, die Welt und die Men­schen, die uns auf Rei­sen begeg­nen, in ihrer Anders­heit wahr- und ernst zu neh­men – ja, gera­de ihre Anders­heit als den eigent­li­chen Schatz zu betrach­ten, den sie uns zu bie­ten haben. So gilt für alle, die die Meis­ter­schaft des Rei­sens erler­nen wol­len, noch ein ande­res Wort Gada­mers: „Wir müs­sen den Ande­ren und das Ande­re ach­ten ler­nen“. Denn: „Mit dem Ande­ren leben, als der Ande­re des Ande­ren leben, die­se mensch­li­che Grund­auf­ga­be gilt im kleins­ten wie im grö­ße­ren Maß­stab“, wie Gada­mer in einem Vor­trag über Die Viel­falt Euro­pas (1985) ein­mal sag­te.

Sich ein­las­sen auf das Ande­re und die Ande­ren, um in der Begeg­nung mit ihm bzw. ihnen eine eige­ne Iden­ti­tät zu for­men und die eige­nen Poten­zia­le zur Ent­fal­tung zu brin­gen: Die­se dia­lo­gi­sche Dyna­mik lässt nicht nur Gesprä­che zwi­schen Men­schen gelin­gen, son­dern auch Rei­sen. Ja, Rei­sen sind die per­fek­te Gele­gen­heit, sich in die­ser Dyna­mik zu üben, bie­ten sie doch natur­ge­mäß ein gro­ßes Arse­nal an Anders­heit, die Rei­sen­de begeis­tern oder inspi­rie­ren könn­te. Ent­schei­dend ist nur, sich auf das Ande­re wirk­lich ein­zu­las­sen – gera­de und vor allem da, wo es befrem­det oder ob sei­ner Anders­heit anstö­ßig erscheint. Denn wo wir uns am Ande­ren sto­ßen, birgt es das größ­te Poten­zi­al, Ent­wick­lun­gen anzu­sto­ßen, die uns Men­schen wirk­lich wei­ter­brin­gen.

Das Sich-Ein­las­sen auf den oder das Ande­re in sei­ner Anders­heit ver­langt die Tugend des Respek­tes. Das Wort Respekt lei­tet sich her vom Latei­ni­schen respec­tio, was so viel bedeu­tet wie: Rück­schau. Das ver­rät etwas über das Wesen des Respekts: Wer Ande­ren gegen­über respekt­voll auf­tritt, schaut zwei­mal hin. Er oder sie begnügt sich nicht mit einer flüch­ti­gen Wahr­neh­mung, son­dern sieht im ande­ren des­sen Beson­der­heit. Wer Ande­re oder Ande­res respek­tiert, ver­liert sich nicht an das Bild, das er von ihm schon mit­bringt, son­dern schaut tie­fer und lässt sein Bild für das trans­pa­rent wer­den, was hin­ter ihm steht: das Eigen­tüm­li­che des Ande­ren. Respekt ist des­halb immer Respekt vor der Indi­vi­dua­li­tät und Beson­der­heit eines Gegen­übers. Das heißt: Respekt­voll Rei­sen­de scheu­en nicht die Begeg­nung mit dem Ande­ren oder Frem­den. Sie las­sen sich nicht dadurch beir­ren, was man schon gehört hat oder was ande­re den­ken, son­dern macht sich die Mühe, selbst hin­zu­schau­en. Anders­heit und Fremd­heit kön­nen einen Rei­sen­den gera­de­wegs dazu anspor­nen, noch genau­er hin­zu­schau­en, um das Ande­re oder die Ande­ren wirk­lich Ernst zu neh­men und an ihnen selbst zu wach­sen. Das heißt nicht, dass ein respekt­vol­ler Umgang dar­in bestün­de, zu allem ‚Ja und Amen‘ zu sagen. Man muss nicht alles gut fin­den, was einem auf Rei­sen begeg­net – man kann und darf sich auch an ihm rei­ben oder dar­über auf­re­gen. Ent­schei­dend ist nur, sich wirk­lich auf es ein­zu­las­sen und mit ihm umzu­ge­hen; denn nur, wo das geschieht, wird eine Rei­se ihre gan­ze Pracht und ihren gan­zen Zau­ber zur Ent­fal­tung brin­gen. Und das gilt auch dann, wenn ange­sichts des­sen, was einem begeg­net, Wider­stand in einem keimt, wenn sich das Gewis­sen empört oder einen gar der Ekel packt. Auch da noch schlum­mert für den anspruchs­voll und ver­ant­wort­lich Rei­sen­den eine neue und womög­lich wich­ti­ge Erkennt­nis.
Wie aber wer­de ich als Rei­sen­der der Anders­heit des Ande­ren wirk­lich gewahr? Wie gelingt es, den Fil­ter der eige­nen Vor­mei­nun­gen und Denk­ge­wohn­hei­ten auf­zu­bre­chen, um von mei­nen eige­nen Erwar­tun­gen und Sicht­wei­sen los­zu­kom­men und das Ande­re als Ande­res zu respek­tie­ren? Wel­che Brü­cke führt über die Kluft zum Fremd­ar­ti­gen oder auch Befremd­li­chen? Hin­ga­be und Hin­wen­dung, Prä­senz und Gegen­wär­tig­keit, Respekt und Ach­tung – davon war bereits die Rede. Es gibt aber noch ein wei­te­res Mit­tel, das aus der Pra­xis des Gesprä­ches wohl bekannt ist – und einem jeden Rei­sen­den als ‚Mas­ter­tool‘ der Rei­se­kunst geläu­fig sein soll­te: das Fra­gen.

„Man macht kei­ne Erfah­rung ohne die Akti­vi­tät des Fra­gens“, sagt Hans-Georg Gada­mer und macht damit einen Punkt, der für die Meis­ter­schaft des Rei­sens von Belang ist. Denn den Respekt vor dem Ande­ren und die Bereit­schaft, sich auf ihn oder es ein­zu­las­sen, kann man auf kei­ne ein­dring­li­che­re Wei­se bekun­den als dar­in, dass man Fra­gen stellt. Das Ver­häng­nis­vol­le ist nun aber, dass auf Rei­sen meist das Gegen­teil geschieht: Von eif­ri­gen Rei­se­lei­tern oder erschöp­fen­den Rei­se­füh­rern wer­den Tou­ris­ten mit einer sol­chen Flut von Ant­wor­ten (nach denen nie­mand je gefragt hat­te) trak­tiert, dass jeder Anflug einer eige­nen, ech­ten Fra­ge im Keim erstickt wird. Jeder Grup­pen­rei­sen­de kennt die pein­li­che Stil­le am Ende einer Füh­rung, wenn der Gui­de sich bemü­ßigt sieht, in Erkun­dung zu brin­gen, ob noch jemand Fra­gen habe. Ent­we­der herrscht Schwei­gen oder – schlim­mer noch – die übli­chen Ver­däch­ti­gen nut­zen die Gele­gen­heit, um ihre eige­nen Ant­wor­ten auf unge­stell­te Fra­gen vor­zu­tra­gen. Infor­ma­tio­nen, noch mehr Infor­ma­tio­nen, Mei­nun­gen, Urtei­le – aber kei­ne Fra­gen. Doch auf Rei­sen muss man fra­gen, wenn denn stimmt, das gute Rei­sen inni­ge Gesprä­che mit der Welt sind: den Men­schen, die einem begeg­nen; den Orten, die einen anspre­chen; mit sich selbst. Frag­wür­di­ges – im vol­len Sin­ne des Wor­tes – wer­den acht­sam Rei­sen­de immer im Über­maß fin­den.

Fra­gen öff­nen, Fra­gen bre­chen auf, Fra­gen bau­en Brü­cken. Fra­gen sind – bei Lich­te bese­hen – der eigent­li­che Motor einer Rei­se. Wer kei­ne Fra­ge im Gepäck hat, braucht sich gar nicht auf den Weg zu machen. Wer nur fer­ti­ge Ant­wor­ten mit sich führt, wäre bes­ser daheim geblie­ben; denn er läuft Gefahr, gänz­lich in Selbst­be­züg­lich­keit zu ersti­cken und nichts von dem zu gewah­ren, was ihm begeg­net – nichts von dem zu hören, was das frem­de Land ihm sagen könn­te. Denn, um noch­mals Gada­mer zu bemü­hen: „Der hört falsch, der sich selbst stän­dig zuhört, des­sen Ohr gleich­sam so erfüllt ist von dem Zuspruch, den er sich selbst stän­dig zuspricht, indem er sei­ne Antrie­be und Inter­es­sen ver­folgt, dass er den ande­ren nicht zu hören ver­mag.“ Nein, wer wirk­lich rei­sen will, braucht Fra­gen: Fra­gen, die ihm die Rich­tung wei­sen; Fra­gen, die ihn ins Gespräch mit der bereis­ten Welt ver­wi­ckeln; Fra­gen, die neue Hori­zon­te öff­nen und am Ende dazu füh­ren, dass der eige­ne Hori­zont mit den bereis­ten Hori­zon­ten ver­schmel­zen kann. Wo das geschieht, da öff­net sich dem Rei­sen­den das größ­te Glück: das Glück des Ver­ste­hens, das Glück des Sinns.

 
Auf­bre­chen. Phi­lo­so­phi­sche Inspi­ra­tio­nen für Rei­sen­de
Chris­toph Quarch & Peter Voll­brecht

Zeich­nun­gen Andre­as Klammt
Her­aus­ge­ber ZEIT REISEN
140 Sei­ten | 11,5 x 16,5 cm | Hard­co­ver
bedruck­ter Lei­nen­ein­band
ISBN 978–3‑948 206 02 4 | € 12,90