Homo analogus. Warum wir unsere Menschlichkeit einbüßen, wenn wir uns nach Maßgabe unserer Maschinen deuten

Im Jah­re 1748 ver­öf­fent­lich­te der fran­zö­si­sche Arzt und Phi­lo­soph Juli­en Offray de La Mettrie ein Buch, das Epo­che machen soll­te. Es trug den Titel L’Homme machi­ne – in deut­scher Über­set­zung Der Mensch als Maschi­ne (1).

In die­sem Buch deu­te­te La Mettrie den Men­schen als einen mecha­ni­schen Appa­rat, der von einer Pum­pe (= Herz) bewegt wird und des­sen Mus­keln, Seh­nen, Kno­chen und Ner­ven wie ein klug gebau­tes Uhr­werk inein­an­der grei­fen. Das war nicht wirk­lich neu, denn fas­zi­niert durch die Errun­gen­schaf­ten der Mecha­nik und der Wis­sen­schaft, hat­ten im 18. Jahr­hun­dert schon ande­re küh­ne Geis­ter den mensch­li­chen Leib noch Maß­ga­be von Maschi­nen zu deu­ten ver­sucht. Und fin­di­ge Tüft­ler und Uhr­ma­cher wie Jac­ques Vau­can­son hat­ten schon zehn Jah­re vor dem Erschei­nen von La Mettries Buch gro­ßes Auf­se­hen mit Auto­ma­ten erregt, die aus­sa­hen wie Men­schen und Schach oder gar Flö­te spie­len konnten.
Doch nicht nur das: Die Mäch­ti­gen des 18. Jahr­hun­derts fan­den nicht nur Gefal­len an den „Andro­iden“, wie man die­se ver­spiel­ten Vor­läu­fer des Robo­ters nann­te, son­dern sie began­nen auch damit, die Welt nach Maß­ga­be des Mind­sets umzu­bau­en, der in den Auto­ma­ten­men­schen sei­nen sin­nen­fäl­li­gen Aus­druck gefun­den hat­te: das mecha­ni­sche Den­ken. Büro­kra­tien, Armeen und Fabri­ken wur­den wie Maschi­nen ein­ge­rich­tet und dahin­ge­hend opti­miert, dass sie mit der Prä­zi­si­on eines Schwei­zer Uhr­werks die­je­ni­gen Funk­tio­nen ver­rich­te­ten, die man sich von ihnen wünsch­te. Und eben­so begann man den ein­zel­nen Men­schen durch Bil­dung und Erzie­hung dahin­ge­hend zu opti­mie­ren, dass er sich als voll funk­ti­ons­fä­hi­ges Zahn­rad in die die gro­ße Maschi­ne des Staa­tes ein­füg­te. So ent­stand eine neue Welt: die Welt des Indus­trie­zeit­al­ters – jener Epo­che, die nun­mehr durch das Infor­ma­ti­ons­zeit­al­ter abge­löst wer­den soll.

Doch eines bleibt: Wir fol­gen beim Design der neu­en Welt­zeit der­sel­ben Dra­ma­tur­gie wie im 18. Jahr­hun­dert. Wir deu­ten uns selbst im Spie­gel der von uns erdach­ten und gebau­ten Maschi­nen und rich­ten dem­ge­mäß unse­re Welt ein, um zuletzt tat­säch­lich ein maschi­nen­haf­tes Leben zu füh­ren. Der ein­zi­ge Unter­schied zwi­schen dem frü­hen 21. Jahr­hun­dert und dem vor­in­dus­tri­el­len Zeit­al­ter liegt dar­in, dass sich die Maschi­nen gewan­delt haben, an denen wir Maß neh­men: Es sind nicht mehr mecha­ni­sche Uhr­wer­ke, son­dern digi­ta­le Rechen­ma­schi­nen – Com­pu­ter; mehr noch: es sind digi­tal-mecha­ni­sche Misch­we­sen, Robo­ter, digi­ta­le Andro­iden, mit mecha­ni­schen Appa­ra­tu­ren aus­ge­stat­te­te Künst­li­che Intel­li­genz (KI).
Die­se Maschi­nen haben mit den Andro­iden des Barock eines gemein: Sie fol­gen Algo­rith­men. Ein Algo­rith­mus ist nichts ande­res als ein for­ma­li­sier­ter Pro­zess, der sowohl über Räder­wer­ke als auch binä­re Codes abge­wi­ckelt wer­den kann. Nur dass die Algo­rith­men der heu­ti­gen Maschi­nen unver­hält­nis­mä­ßig kom­ple­xer und leis­tungs­fä­hi­ger sind als die ihrer archai­schen Vor­läu­fer. Doch in der Sache ist der­sel­be Geist am Wer­ke: ein Geist, der sich gebannt von den Maschi­nen, die er schuf, nach deren Bil­de selbst ent­wirft. „Der Mensch ist ein Algo­rith­mus“, behaup­tet heu­te voll­mun­dig Yuval Noah Hara­ri, der Autor des Best­sel­lers „Homo Deus“, und erweist sich dar­in als geis­ti­ger Bru­der La Mettries (2).
Hier wird die Sache inter­es­sant. Denn die gro­ße Fra­ge, vor der die Mensch­heit heu­te steht, wird nicht sein, ob die Ver­hei­ßun­gen des Sili­con Val­ley in Erfül­lung gehen – ob wir wirk­lich zu unsterb­li­chen Cyborgs wer­den und uns mit Maschi­nen umge­ben, die uns von allen unlieb­sa­men Arbei­ten befrei­en. Die ent­schei­den­de Fra­ge wird sein: Was wird aus uns, wenn wir uns selbst – wie im 18. Jahr­hun­dert – nach Maß­ga­be unse­rer Maschi­nen deu­ten und unse­re Welt ein­rich­ten? Was wird aus uns, wenn wir – unter dem Ein­fluss der KI domi­nier­ten – tat­säch­lich digi­ta­le Algo­rith­men wer­den, die jedoch ob der Feh­ler­an­fäl­lig­keit ihrer orga­ni­schen Spei­cher­me­di­en an Leis­tungs­kraft und Kom­ple­xi­tät ihren anor­ga­ni­schen Ver­wand­ten him­mel­weit unter­le­gen sind? Wird die Zeit der gro­ßen Frei­heit begin­nen – oder die Zeit der tota­len Depression?
Es steht zu befürch­ten, dass es für den Men­schen, wie wir ihn kann­ten, kei­ne gute Zeit sein wird. Das liegt nicht in ers­ter Linie dar­an, dass wir – wenn wir uns denn schon auf die­se frag­wür­di­ge, weil höchst zeit­be­ding­te Sicht der Din­ge ein­las­sen wol­len – min­der­wer­ti­ge Algo­rith­men wären, son­dern es liegt an der beson­de­ren Art und dem Zuschnitt der Algo­rith­men, die den Maschi­nen der künst­li­chen Intel­li­genz inne­woh­nen. Schon zur Zeit der ers­ten Andro­iden war nicht uner­heb­lich, ob deren mecha­ni­scher Algo­rith­mus sie dazu brach­te, Flö­te zu spie­len oder auf dem Schlacht­feld des Schach­spiels zu obsie­gen. Und eben­so ist nicht uner­heb­lich, wel­chen Pro­gram­men die Robo­ter und Maschi­nen der KI folgen.
An die­sem Punkt braucht man sich, wie Frank Schirr­ma­cher in sei­nem gran­dio­sen Werk „Ego. Das Spiel des Lebens“ (3) nach­ge­wie­sen hat, kei­nen Illu­sio­nen hin­zu­ge­ben: Die Logik, die den Algo­rith­men der KI inne­wohnt, ist die Logik des Eigen­nut­zes. So ist es bei den Com­pu­tern, die heu­te in den Finanz­schau­plät­zen der Welt die Bör­sen­ge­schäf­te aus­füh­ren, so ist es in den Rech­nern der Mili­tärs und so ist es in den Mega-Algo­rith­men, mit deren Hil­fe Goog­le und ande­re IT-Kon­zer­ne Anzei­gen­plät­ze ver­kau­fen. Über­all zeigt sich, dass die geläu­fi­ge KI eine ego­is­ti­sche Intel­li­genz ist, deren Erfolgs­pa­ra­me­ter hei­ßen: Pro­fit, Opti­mie­rung, Effi­zi­enz, Produktivität.
„Der Com­pu­ter simu­liert den Gedan­ken, wenn der Gedan­ke com­pu­ter­ge­recht defi­niert wur­de“, zitiert Schirr­ma­cher Hugh Ken­ner (4) und skiz­ziert die Her­kunfts­ge­schich­te der KI: Seit dem 18. Jahr­hun­dert meint der Mensch, Intel­li­genz zei­ge sich dar­in, für sich das Bes­te her­aus­zu­ho­len – aber erst am Ende des 21. Jahr­hun­derts hat die­ser Glau­be tri­um­phiert und eine von Ego­is­mus und Öko­no­mis­mus über­wu­cher­te Welt geschaf­fen. Nun­mehr scheint es (trü­ge­ri­scher Wei­se) selbst­ver­ständ­lich, Algo­rith­men für Maschi­nen zu schrei­ben, die die jeweils errech­ne­ten Wahr­schein­lich­kei­ten bei allen Ope­ra­tio­nen für die Pro­fit­ma­xi­mie­rung zugrun­de legen. Nicht nur fan­gen wir damit an, uns selbst als Algo­rith­men zu deu­ten und ent­spre­chend zu agie­ren, son­dern wir inkar­nie­ren zugleich deren ego­is­ti­sche Gewinn-maxi­mie­rungs-Pro­gram­me. Das ist es, was die gegen­wär­tig KI-Eupho­rie pro­ble­ma­tisch erschei­nen lässt: Es droht die Zer­rüt­tung unse­re Gesellschaften.
Das Pro­blem ist also ein dop­pel­tes: Wir deu­ten uns nach Maß­ga­be von Maschi­nen, die wir nach Maß­ga­be einer pro­ble­ma­ti­schen Deu­tung des Mensch­seins – näm­lich des Men­schen als ratio­na­len Ego­is­ten – ent­wi­ckelt haben. Je mehr wir die­sen Maschi­nen hul­di­gen, des­to mehr wer­den wir dann auch glau­ben, min­der­wer­ti­ge ratio­na­le Ego­is­ten zu sein, die den Job der Gewinn­ma­xi­mie­rung bes­ser gleich ihren Maschi­nen über­las­sen. Dann wer­den wir ein­se­hen müs­sen, dass wir über­flüs­sig sind: Die Markt­wirt­schaft wird mit Hil­fe von KI-Robo­tern viel effi­zi­en­ter und gewinn­brin­gen­der wach­sen als dann, wenn sich feh­ler­be­las­te­te „mensch­li­che Algo­rith­men“ einmischen.
Aber sind Com­pu­ter wirk­lich bes­se­re Men­schen? Sind Men­schen wirk­lich min­der­wer­ti­ge Gewinn­ma­xi­mie­rungs-Algo­rith­men? Oder sind das nicht alles his­to­risch beding­te Deu­tun­gen unse­rer selbst, die frag­wür­dig wer­den, sobald man sich klar­macht, dass es immer Epo­chen gab, in denen Men­schen sich anders deu­te­ten, ande­re Wel­ten errich­te­ten und sie nach Maß­ga­be ande­rer Idea­le „pro­gram­mier­ten“? Ein biss­chen his­to­ri­sche Bil­dung reicht aus, um den Schwin­del zu durch­schau­en und zu begrei­fen, dass es an der Schwel­le zum KI-Zeit­al­ter in Wahr­heit nur eine Auf­ga­be gibt: uns des­sen zu besin­nen, was Mensch­sein wirk­lich ist – in sei­nen Tie­fen­struk­tu­ren unter­halb aller pro­fit­ma­xi­mie­ren­den Pro­gram­me, Stra­te­gien und Kalküle.
Es gilt, uns des­sen zu besin­nen, dass wir Wesen sind, die lie­ben kön­nen, die sich von Schön­heit ergrei­fen las­sen, die nach Sinn hun­gern und deren gebrech­li­cher Leib ihrem Leben Glanz und Grö­ße ver­leiht. Es gilt uns des­sen zu besin­nen, dass wir schöp­fe­ri­sche Wesen sind, die nicht im Gegen­ein­an­der, son­dern im Mit­ein­an­der zur Blü­te rei­fen. Es gilt, nicht an immer klü­ge­ren Opti­mie­rungs­ma­schi­nen und immer kom­ple­xe­ren Algo­rith­men zu fei­len, son­dern die Schön­heit des Lebens in all sei­ner Tra­gik und End­lich­keit zu fei­ern. Es gilt, eine neue Spra­che und einen neu­en Mythos zu fin­den, der uns zu ver­ste­hen gibt, das erfüll­tes Mensch­sein gänz­lich ande­res benö­tigt, als Robo­ter und Künst­li­che Intel­li­genz. Mit einem Wort: Es gilt, für die Rei­fe der mensch­li­chen See­le zu sor­gen und nicht für die tech­ni­sche Auf­rüs­tung sei­nes Egos. 

Quellen

  1. Juli­en Offray de La Mettrie: Die Maschi­ne Mensch, hg. v. Clau­dia Becker, Felix Mei­ner, Ham­burg 2009.
  2. Yuval Noah Hara­ri: Homo Deus. Eine Geschich­te von Mor­gen, C.H. Beck, 12. Aufl. Mün­chen 2017.
  3. Frank Schirr­ma­cher: Ego. Das Spiel des Lebens. Bles­sing Ver­lag, Mün­chen, 5. Aufl. Mün­chen 2013.
  4. Schirr­ma­cher, a.a.O., S. 135.

Blog­bei­trag von Chris­toph Quarch ver­öf­fent­licht auf dem Phi­lo­so­phie Por­tal www.philosophie.ch, 19.2.2018
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