Es geht um die Zukunft Europas. Es geht um die Frage, ob wir in den von uns geschaffenen Strukturen verharren und erstarren wollen oder einen Aufbruch wagen werden; ein Thema, das – wie mir in diesen Tagen bei meinem Seminar über die Romantik deutlich wird – schon um 1800 auf der Agenda der europäischen Kultur stand. Damals entwickelten die klügsten unter den jungen Dichtern und Denkern ein Programm des Aufbruchs: des Aufbrechens der erstarrten Formen, in denen sich die europäische Seele verfangen und ihre Lebendigkeit eingebüßt hatte. Sie wollten den Wandel, weil sie sahen, dass die alte Architektur morsch und lebensfeindlich geworden war.
Stehen wir nicht heute an einer ganz ähnlichen Schwelle? Wissen wir nicht längst, dass der von uns gebaute Palast der Ökonomie Risse und Brüche erhalten hat: dass er einsturzgefährdet ist und dass es von Tag zu Tag gefährlicher wird, sich in seinen scheinbar so komfortablen und klimatisierten Räumen aufzuhalten? Sind es nicht Angst und Bequemlichkeit, die uns gar zu oft an dem festhalten lassen, was uns in Wahrheit nicht gut tut? Verschließen wir nicht deshalb die Ohren vor jenen, die zum Aufbruch rufen, weil ihre Wahrheit uns erschreckt? Verspotten wir sie nicht deshalb als Romantiker oder Fantasten, als »Radikale« oder »Amateure«, weil wir uns ihre Wahrheit vom Leibe halten wollen?
Die Griechen sind die Romantiker von heute. Und das ist nicht das Schlechteste, was man von ihnen sagen kann. Sie könnten uns daran erinnern, dass uns europäisches Haus von einer nicht mehr tragfähigen Architektur des Geldmarktes gestützt wird, die kurz vor dem Einsturz steht. Sie könnten uns dazu ermutigen, Europa grundzusanieren, um neues Leben einziehen zu lassen. Wir brauchen diese Griechen in Europa, damit ihr jugendlicher Geist unserer Altersstarre beikommt. Eines scheint mir gewiss:
Nichts bleibt wie es ist:
Ohne die Griechen wird Europa erstarren. Mit den Griechen wird es sich verändern. Was also wollen wir?
Hier noch eine passende Lesefrucht, gefunden bei Wilhelm Müller:
Hellas und die Welt
Ohne die Freiheit, was wärest du, Hellas?
Ohne dich, Hellas, was wäre die Welt?
Kommt, ihr Völker aller Zonen,
Seht die Brüste,
Die euch säugten
Mit der reinen Milch der Weisheit! –
Sollen Barbaren sie zerfleischen?
Seht die Augen,
Die euch erleuchteten
Mit dem himmlischen Strahle der Schönheit! –
Sollen sie Barbaren blenden?
Seht die Flamme,
Die euch wärmte
Durch und durch im tiefen Busen,
Daß ihr fühltet,
Wer ihr seid,
Was ihr wollt,
Was ihr sollt,
Eurer Menschheit hohen Adel,
Eure Freiheit! –
Sollen Barbaren sie ersticken?[224]
Kommt, ihr Völker aller Zonen,
Kommt und helfet frei sie machen,
Die euch alle frei gemacht!
Ohne die Freiheit, was wärest du, Hellas?
Ohne dich, Hellas, was wäre die Welt?