Der Mensch: Ein Wesen der Verbundenheit

Unsere Identität verdankt sich den Beziehungen, in denen wir stehen

Gno­thi sau­ton – Erken­ne dich selbst! Am Anfang der Phi­lo­so­phie steht der Appell zur Selbst­er­kennt­nis. Apol­lon, der Gott der Dich­ter und Den­ker, ruft durch eine Inschrift an sei­nem Tem­pel zu Del­phi jedem Men­schen zu: Erken­ne dich selbst! Fin­de her­aus, was es heißt, ein Mensch zu sein! 

Einer, der damit Ernst mach­te, war Sokra­tes. Kein Wun­der, dass das del­phi­sche Ora­kel sag­te, er sei der wei­ses­te von allen Men­schen. Nicht weil er so viel wuss­te, son­dern weil er die rich­ti­gen Fra­gen stell­te: die Fra­ge nach dem guten Leben; die Fra­ge, was die Tugend (grie­chisch: are­té = Best­heit) des Men­schen­le­bens ist. Die Ant­wort, die er fand, war ganz im Geis­te des Apol­lon: Das gute Leben ist ein Leben der Har­mo­nie – ein Leben im Ein­klang mit der gro­ßen Musik des Kos­mos, ein Leben im Ein­klang mit sich selbst, ein Leben im Ein­klang mit dem, was die Grie­chen pólis nann­ten: dem Gemeinwesen.

Schließ­lich war es Aris­to­te­les, der die­se Ein­sicht auf die For­mel brach­te, als er am Anfang sei­ner Poli­tik den Men­schen als ein zoón poli­ti­kón bezeich­ne­te: als ein gemein­we­sent­li­ches Wesen – ein Wesen, dem es wesent­lich ist, Teil einer Gemein­schaft ande­rer Wesen zu sein. Der Mensch, so fühl­te man im alten Grie­chen­land und so dach­te Aris­to­te­les, ist eigent­lich nur da ganz Mensch, wo er sich zuge­hö­rig weiß zu einem grö­ße­ren Sys­tem, dem er als ein Teil unter vie­len ande­ren ange­hört. In der Ver­bun­den­heit mit ande­ren erfüllt sich wah­res Menschsein.
Das zu erken­nen und danach zu leben, ist die Kern­weis­heit jener grie­chi­schen Kul­tur, die einst die Demo­kra­tie erfand. Wir Kin­der der Moder­ne aber haben sie ver­ges­sen. Wir glau­ben, Mensch­sein hei­ße, sich im Gegen­über zu den ande­ren zu behaup­ten. „Mir geht nichts über mich“, sag­te nicht nur Max Stir­ner (Der Ein­zi­ge und sein Eigen­tum), so lehr­te es auch Nietz­sche und nach ihm eine ganz Heer­schar von Lebens­kunst­phi­lo­so­phen und Küchen­psy­cho­lo­gen, deren Cre­do lau­tet: „Du musst dich selbst ver­wirk­li­chen!“, „Du bist jetzt dran!“, „Du musst als ers­tes nach dir selbst schauen!“
Die­ser Nar­ziss­mus unse­rer Gegen­wart ist flach. Er grün­det in einem Men­schen­bild, des­sen his­to­ri­sche Gene­se in die Anfän­ge der Neu­zeit zurück­reicht. Sei­ne Wur­zeln hat er in der dunk­len Anthro­po­lo­gie eines Tho­mas Hob­bes, der vor dem Hin­ter­grund der blu­ti­gen Kon­fes­si­ons­krie­ge des 16. Jahr­hun­derts mein­te, der Mensch sei eigent­lich der „Wolf des Men­schen“ – und sein Natur­zu­stand ein „Krieg aller gegen aller“ (Levia­than). Seit­her erlebt der Mensch des Wes­tens sich als Wesen fort­wäh­ren­der Kon­kur­renz, spä­ter schein­bar wis­sen­schaft­lich begrün­det durch Charles Dar­wins Theo­rie vom evo­lu­tio­nä­ren Prin­zip des „Sur­vi­val of the fit­test“ und ethisch legi­ti­miert durch den libe­ra­lis­ti­schen Mythos des Adam Smith, wonach der all­ge­mei­ne Wohl­stand sich von selbst ein­stellt, wenn jeder sei­nen ego­is­ti­schen Moti­ven auf dem frei­en Mark­te nach­ge­hen darf. Der Mensch von heu­te ist ein Homo oeconomicus.
Wohin uns die­ses Men­schen­bild geführt hat, liegt auf der Hand: Der gesell­schaft­li­che Zusam­men­halt brö­ckelt, der Mensch mutiert zum Ele­men­tar­teil­chen, das unver­bun­den in einer ent­frem­de­ten Welt tor­kelt und dem nichts und nie­mand noch ver­bind­lich ist – ja, das sich allen­falls mit der vir­tu­el­len Schein­ver­bun­den­heit des Inter­nets oder dump­fen natio­na­len Ideo­lo­gien vom Ver­lust sei­nes wah­ren Wesens ablen­ken lässt: vom Ver­lust des zóon poli­ti­kón. So lebt der Mensch von heu­te sei­ner selbst ent­frem­det – unwe­sent­lich und flach, weil er allei­ne um sich sel­ber kreist und kei­ne ande­re Fra­ge zulässt als: „Was bringt mir das?“
Wir soll­ten bes­ser wie­der fra­gen, was der Mensch ist – was es bedeu­tet Mensch zu sein. Wir soll­ten uns dar­an erin­nern, dass Mensch­sein nicht bedeu­tet, ein selbst­be­zo­ge­nes Ego zu sein, son­dern ein zwie­fäl­ti­ges Wesen: ein Wesen, dem – wie nicht nur Phi­lo­so­phen, son­dern auch Neu­ro­phy­sio­lo­gen wis­sen – eine dop­pel­te Ten­denz inne­wohnt: eine Ten­denz zu Gemein­schafts­bil­dung, Ver­bun­den­heit, Mit­ein­an­der sowie eine Ten­denz zu Indi­vi­dua­li­tät, Selbst­be­kun­dung und schöp­fe­ri­scher Frei­heit. Wir sind, mit ande­ren Wor­ten, bei­des: zóon poli­ti­kón und – ansatz­wei­se – Homo oeco­no­mic­us. Damit der letz­te­re nicht wei­ter unse­re Welt zer­stört, ist’s höchs­te Zeit, das zóon poli­ti­kón neu­er­lich zu würdigen.
Und dafür gibt es guten Grund. Denn was die alten Grie­chen ahn­ten, bestä­tigt längst die Wis­sen­schaft: So hat die avan­cier­te, sys­te­mi­sche Bio­lo­gie Dar­wins Evo­lu­ti­ons­leh­re dahin­ge­hend erwei­tert, dass für das evo­lu­tio­nä­re Fort­kom­men nicht Kraft und Stär­ke, son­dern Inte­gra­ti­ons­fä­hig­keit, Gemein­schafts­bil­dung und Koope­ra­ti­on als ent­schei­den­de Qua­li­tä­ten gel­ten. So notiert der Bio­lo­ge Andre­as Weber: „Die Prin­zi­pi­en, die sich aus den For­schun­gen der Bio­lo­gen her­aus­schä­len, zei­gen, dass Leben auf nahe­zu jeder Ebe­ne eine kol­lek­ti­ve Ange­le­gen­heit ist, eine gemein­sa­me Unter­neh­mung ver­schie­dens­ter Wesen, die nur, indem sie ein­an­der irgend­wie ertra­gen und sich eini­gen, zu einem sta­bi­len, funk­ti­ons­fä­hi­gen und damit auch schö­nen Öko­sys­tem kommen.“
Sich im Sin­ne des Aris­to­te­les als Wesen der Ver­bun­den­heit zu deu­ten, ent­spricht mit­hin unse­rer bio­lo­gi­schen Aus­stat­tung. Und nicht nur das. Es ent­spricht auch einem Grund­prin­zip des Seins, von dem die theo­re­ti­sche Phy­sik weiß: Die Iden­ti­tät eines Phä­no­mens ergibt sich aus sei­ner Bezo­gen­heit auf ande­re. In die Lebens­welt des Men­schen gewen­det, ergibt sich dar­aus jene For­mel, die Mar­tin Buber für das Men­schen­we­sen fand: „Der Mensch wird am Du zum Ich“ (Ich und Du). Das heißt: Wir sind die, die wir sind, auf­grund der Zuge­hö­rig­kei­ten und Ver­bin­dun­gen, in denen wir zu ande­ren ste­hen. Allein im Dia­log mit ande­ren Men­schen und im Dia­log mit einer Kul­tur formt sich unser Sosein, unse­re Identität.
Die bei­den Grund­ten­den­zen unse­res Seins fin­den im dia­lo­gi­schen Gesche­hen glei­cher­ma­ßen ihre Erfül­lung: Unse­re Sehn­sucht nach Unver­wech­sel­bar­keit, unser Wunsch, sich als Indi­vi­du­um in der Welt zu zei­gen, erfüllt sich in der Begeg­nung mit ande­ren. Denn wir sind immer ein­zig­ar­ti­ge Wesen und Mit­spie­ler in grö­ße­ren sys­te­mi­schen Kon­tex­ten. Bei­des zu wis­sen, bei­dem gemäß zu leben – das ist der Weg zu einem erfüll­ten Mensch­sein: zu einem indi­vi­du­el­len zóon poli­ti­kón. Das ist die zeit­ge­mä­ße Ant­wort auf das alte Wort Apol­lons: „Erken­ne dich selbst“. 

Chris­toph Quarch, Ful­da im Novem­ber 2016