Unsere Identität verdankt sich den Beziehungen, in denen wir stehen
Einer, der damit Ernst machte, war Sokrates. Kein Wunder, dass das delphische Orakel sagte, er sei der weiseste von allen Menschen. Nicht weil er so viel wusste, sondern weil er die richtigen Fragen stellte: die Frage nach dem guten Leben; die Frage, was die Tugend (griechisch: areté = Bestheit) des Menschenlebens ist. Die Antwort, die er fand, war ganz im Geiste des Apollon: Das gute Leben ist ein Leben der Harmonie – ein Leben im Einklang mit der großen Musik des Kosmos, ein Leben im Einklang mit sich selbst, ein Leben im Einklang mit dem, was die Griechen pólis nannten: dem Gemeinwesen.
Das zu erkennen und danach zu leben, ist die Kernweisheit jener griechischen Kultur, die einst die Demokratie erfand. Wir Kinder der Moderne aber haben sie vergessen. Wir glauben, Menschsein heiße, sich im Gegenüber zu den anderen zu behaupten. „Mir geht nichts über mich“, sagte nicht nur Max Stirner (Der Einzige und sein Eigentum), so lehrte es auch Nietzsche und nach ihm eine ganz Heerschar von Lebenskunstphilosophen und Küchenpsychologen, deren Credo lautet: „Du musst dich selbst verwirklichen!“, „Du bist jetzt dran!“, „Du musst als erstes nach dir selbst schauen!“
Dieser Narzissmus unserer Gegenwart ist flach. Er gründet in einem Menschenbild, dessen historische Genese in die Anfänge der Neuzeit zurückreicht. Seine Wurzeln hat er in der dunklen Anthropologie eines Thomas Hobbes, der vor dem Hintergrund der blutigen Konfessionskriege des 16. Jahrhunderts meinte, der Mensch sei eigentlich der „Wolf des Menschen“ – und sein Naturzustand ein „Krieg aller gegen aller“ (Leviathan). Seither erlebt der Mensch des Westens sich als Wesen fortwährender Konkurrenz, später scheinbar wissenschaftlich begründet durch Charles Darwins Theorie vom evolutionären Prinzip des „Survival of the fittest“ und ethisch legitimiert durch den liberalistischen Mythos des Adam Smith, wonach der allgemeine Wohlstand sich von selbst einstellt, wenn jeder seinen egoistischen Motiven auf dem freien Markte nachgehen darf. Der Mensch von heute ist ein Homo oeconomicus.
Wohin uns dieses Menschenbild geführt hat, liegt auf der Hand: Der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt, der Mensch mutiert zum Elementarteilchen, das unverbunden in einer entfremdeten Welt torkelt und dem nichts und niemand noch verbindlich ist – ja, das sich allenfalls mit der virtuellen Scheinverbundenheit des Internets oder dumpfen nationalen Ideologien vom Verlust seines wahren Wesens ablenken lässt: vom Verlust des zóon politikón. So lebt der Mensch von heute seiner selbst entfremdet – unwesentlich und flach, weil er alleine um sich selber kreist und keine andere Frage zulässt als: „Was bringt mir das?“
Wir sollten besser wieder fragen, was der Mensch ist – was es bedeutet Mensch zu sein. Wir sollten uns daran erinnern, dass Menschsein nicht bedeutet, ein selbstbezogenes Ego zu sein, sondern ein zwiefältiges Wesen: ein Wesen, dem – wie nicht nur Philosophen, sondern auch Neurophysiologen wissen – eine doppelte Tendenz innewohnt: eine Tendenz zu Gemeinschaftsbildung, Verbundenheit, Miteinander sowie eine Tendenz zu Individualität, Selbstbekundung und schöpferischer Freiheit. Wir sind, mit anderen Worten, beides: zóon politikón und – ansatzweise – Homo oeconomicus. Damit der letztere nicht weiter unsere Welt zerstört, ist’s höchste Zeit, das zóon politikón neuerlich zu würdigen.
Und dafür gibt es guten Grund. Denn was die alten Griechen ahnten, bestätigt längst die Wissenschaft: So hat die avancierte, systemische Biologie Darwins Evolutionslehre dahingehend erweitert, dass für das evolutionäre Fortkommen nicht Kraft und Stärke, sondern Integrationsfähigkeit, Gemeinschaftsbildung und Kooperation als entscheidende Qualitäten gelten. So notiert der Biologe Andreas Weber: „Die Prinzipien, die sich aus den Forschungen der Biologen herausschälen, zeigen, dass Leben auf nahezu jeder Ebene eine kollektive Angelegenheit ist, eine gemeinsame Unternehmung verschiedenster Wesen, die nur, indem sie einander irgendwie ertragen und sich einigen, zu einem stabilen, funktionsfähigen und damit auch schönen Ökosystem kommen.“
Sich im Sinne des Aristoteles als Wesen der Verbundenheit zu deuten, entspricht mithin unserer biologischen Ausstattung. Und nicht nur das. Es entspricht auch einem Grundprinzip des Seins, von dem die theoretische Physik weiß: Die Identität eines Phänomens ergibt sich aus seiner Bezogenheit auf andere. In die Lebenswelt des Menschen gewendet, ergibt sich daraus jene Formel, die Martin Buber für das Menschenwesen fand: „Der Mensch wird am Du zum Ich“ (Ich und Du). Das heißt: Wir sind die, die wir sind, aufgrund der Zugehörigkeiten und Verbindungen, in denen wir zu anderen stehen. Allein im Dialog mit anderen Menschen und im Dialog mit einer Kultur formt sich unser Sosein, unsere Identität.
Die beiden Grundtendenzen unseres Seins finden im dialogischen Geschehen gleichermaßen ihre Erfüllung: Unsere Sehnsucht nach Unverwechselbarkeit, unser Wunsch, sich als Individuum in der Welt zu zeigen, erfüllt sich in der Begegnung mit anderen. Denn wir sind immer einzigartige Wesen und Mitspieler in größeren systemischen Kontexten. Beides zu wissen, beidem gemäß zu leben – das ist der Weg zu einem erfüllten Menschsein: zu einem individuellen zóon politikón. Das ist die zeitgemäße Antwort auf das alte Wort Apollons: „Erkenne dich selbst“.
Christoph Quarch, Fulda im November 2016