Ἀρετή – Τugend, Bestheit, Stimmigkeit

Was es bedeutet, ein guter Mensch zu sein

Es gibt Worte, in denen ist der ganze Geist einer Kultur verdichtet. Aretē ist so ein Wort. Es ist der Schlüsselbegriff der griechischen Ethik. Egal ob Sokrates, Platon, Aristoteles, die Stoiker oder Epikur: Sie alle kreisten um die eine große Frage: Was ist das gute Leben? Wie lässt es sich beschreiben? Und indem sie diese Frage stellten, fragten sie nach dem, was in ihrer Sprache aretē heißt. Was aber heißt das Wort in unserer Sprache? Gemeinhin übersetzt man es mit Tugend. Das ist nicht falsch, aber höchst missverständlich. Denn das, was landläufig als Tugend gilt, hat nichts mit dem zu tun, was dieses Wort ursprünglich meinte – und was die Griechen unter aretē verstanden. Unser neuzeitliches Verständnis von Tugend ist geprägt von der Moral des Christentums. Diese legt uns nahe, tugendhaft sei nur, wer oder was einem moralischen Gebot genügt – ganz gleich, ob dieses Gebot nun von Gott, der Kirche oder der reinen praktischen Vernunft (Kant) verordnet ist. Ein tugendhafter Mensch, so legt das neuzeitliche Denken nahe, ist einer, der sich den Geboten der Moral verpflichtet weiß. Und tugendhaftes Handeln liegt nur dann vor, wenn es die Gebote der Moral exekutiert. Doch damit hat die aretē der Griechen nichts zu tun.

Die areté der Griechen ist weder die Qualität des Wollens noch des Handels eines Subjekts, sondern sie gründet im Sein des Menschen selbst. Sie ist eine ontologische Qualität, die man – indem man das Wort wörtlich übersetzt – als Bestheit beschreiben kann. Genau genommen handelt es sich bei ihm um ein Substantiv, das von der Femininform des Superlatives von agathós, gut hergeleitet ist: áristos, der Beste – áristē, die Beste – aretē, die Bestheit. Dem entspricht das deutsche Tugend, wenn man darin die ursprüngliche Bedeutung Tauglichkeit hört. Tugend hat, wer oder was etwas taugt. Und das gilt nicht allein für Menschen, sondern für nachgerade alles. So auch bei den Griechen: Platon hat kein Problem damit, von der aretē eines Bettgestells zu reden; sowenig wie Aristoteles sich schwer damit tat, über die aretē eines Messers zu sinnieren – darüber, was ein taugliches, gutes, ja bestmögliches Bettgestell bzw. Messer ist. Die Pointe dabei ist, dass das Verständnis dessen, was ein gutes Messer oder Bettgestell auszeichnet, gleichbedeutend ist mit dem Verständnis dessen, was ein Messer oder Bettgestell seinem Wesen nach ist – nicht was es unserer Vorstellung nach sein sollte. Anders gesagt: Die Bestheit bzw. aretē eines Gegenstandes erklärt sich allein aus seinem Wesen. Die Tugend des Messers ist die Schneidigkeit, die Tugend des Bettgestells … kann jeder selbst des Nachts ermitteln.

Die griechischen Philosophen interessierten sich freilich nicht so sehr für Bettgestelle und Messer, sondern sie wollten wissen, was die aretē des Menschen ist. Um darauf eine Antwort zu geben, mussten sie der alten, im Tempel zu Delphi eingemeißelten Weisung des Gottes Apollon folgen: „Erkenne dich selbst!“ Denn wie bei Messer und Bettgestell wird sich auch die aretē des Menschen aus seinem Sein und Wesen herleiten lassen. Beim guten Leben geht es eben nicht – wie in der christlichen und neuzeitlichen Ethik – darum, das gebotene Gute zu wollen, sondern das wesentliche Gute zu verstehen.

Genau das ist, wenn man Platon und Sokrates folgt, das Projekt der Philosophie: Das Wesen des Menschen durchdenkend ergründen, um so die Maßgabe für ein gutes Leben zu erhalten. Deshalb ist das Wort aretē ein ethisches Programm. Es weist darauf, dass ein gutes Menschenleben nichts anderes ist als ein wirklich humanes Leben: ein Leben, das der Natur, dem Sein und Wesen des Menschen genügt. Die frohe und zugleich anspruchsvolle Botschaft dabei ist: Ja, es gibt so etwas wie ein gelingendes, wesentliches Leben, mit dem wir unserer Würde und unserem Wesen genügen. Doch es gibt ebenso ein unwesentliches Leben, bei dem wir hinter unseren Möglichkeiten zurückbleiben. Nicht weil wir böse wären, sondern weil wir aus Verblendung unser eigenes Wesen nicht verstanden haben. Der Code von „gut“ und „böse“ liegt der Tugendethik, ja dem Lebensgefühl und der Religion der Griechen fern.

Was aber ist das Wesen des Menschen? Was ist die Wahrheit unseres Seins? Wichtiger als diese Fragen zu beantworten, ist es, sie ernst zu nehmen. Die Moralphilosophie der Neuzeit hat uns kaum vorangebracht. Die Tugendethik der Antike hat das Zeug dazu. Zumal, wenn man ihre Antwort auf die Frage nach dem guten Leben ernst nimmt: Gut ist nur das Leben – an diesem Punkte waren sie sich alle einig –, das mit der Natur übereinstimmt. Für Platon war das ein Leben in Harmonie: in Harmonie mit dem Kosmos, mit der Polis, mit uns selbst (in dieser Reihenfolge). Deshalb warb er dafür, den Menschen schon im Kindesalter den Sinn für Harmonie zu bilden: durch Musik, Gymnastik und Tanz. Ausgerechnet sie bahnen laut Platon den Weg zur Bestheit des Menschenlebens. Daran können auch wir wieder Maß nehmen. Denn ein besseres Maß als die Tugend des Seins gibt es nicht.

Θhink Greek! Denn, das Älteste ist zuweilen das Frischste.

Herzlich, Christoph

(veröffentlicht in der Zeitschrift „Abenteuer Philosophie“)