Ἀλήθεια – Wahrheit, Unverborgenheit

Was die Wahr­neh­mung der Welt ermöglicht

„Das Wah­re kann nie wider­legt wer­den.“[*] Es ist ein Satz, der Zuver­sicht aus­strahlt; ein Satz, den Pla­ton sei­nem Leh­rer Sokra­tes in den Mund gelegt hat, und der wie ein Mot­to über des­sen Leben ste­hen könn­te. Sokra­tes ver­trau­te auf die Wahr­heit. Sie war für ihn etwas, das nicht bezwei­felt wer­den kann – etwas, das so gewiss ist wie das Licht der Son­ne, das die Welt erhellt, selbst wenn wir Men­schen uns im Schat­ten einer Höh­le ein­ge­rich­tet haben soll­ten. Was wir sei­ner Ansicht nach tat­säch­lich alle stän­dig tun, so dass wir eben nicht im Licht der Wahr­heit leben, son­dern in der Blind­heit unse­rer eige­nen Kon­zep­te, Inter­es­sen, Mei­nun­gen und Wün­sche. So beschreibt es Sokra­tes in dem berühm­ten Höh­len­gleich­nis aus dem Sieb­ten Buch von Pla­tons Poli­te­ia, in dem davon erzählt wird, wie der Mensch durch Bil­dung dem Gefäng­nis sei­ner Selbst­be­züg­lich­keit ent­kom­men und sich den Frei­raum der Wahr­heit erschlie­ßen kann. Men­schen auf die­sem Weg zu beglei­ten, war des Sokra­tes Mis­si­on – als Freund der Wahr­heit und der Freiheit.

Pla­tons Höh­len­gleich­nis ist ein Text, der uns wie kein zwei­ter einen Ein­blick in das anti­ke grie­chi­sche Ver­ständ­nis der Wahr­heit gewährt. Wahr­heit, so wird hier rasch erkenn­bar, ist im grie­chi­schen Ver­ständ­nis etwas Räum­li­ches. Das Höh­len­gleich­nis stellt zwei „Räu­me“ gegen­über: einen Raum der Dun­kel­heit und Unfrei­heit, in dem die Men­schen das für „wahr“ hal­ten, was ihnen wie in einem Kino vor­ge­spielt wird: Bil­der, Mythen, Medi­en, Nar­ra­ti­ve, Posts und Bloggs, die gan­ze „vir­tu­al rea­li­ty“ des Inter­nets. Die Klü­ge­ren unter den Höh­len­in­sas­sen wis­sen dabei sehr wohl, dass es sich bei alle­dem um media­le Pro­jek­tio­nen han­delt, die der „ech­ten Wirk­lich­keit“ ent­spre­chen oder eben nicht ent­spre­chen kön­nen. Sie unter­zie­hen die­se Pro­jek­tio­nen des­halb einem „Fak­ten-Check“ und klä­ren, ob sie „rich­tig“ oder „falsch“ sind – „wahr“ oder „unwahr“, wie sie sagen. Wahr­heit ist aus ihrer Per­spek­ti­ve folg­lich das, was einer von der neu­zeit­li­chen Phi­lo­so­phie weit­ge­hend über­nom­me­nen Defi­ni­ti­on des Tho­mas von Aquin zufol­ge als adaequa­tio intellec­tus ad rem beschrie­ben wer­den kann: als Über­ein­stim­mung von Geist und Sache.

Mit der Wahr­heit, von der Sokra­tes im Höh­len­gleich­nis spricht – und von der er sagt, sie sei unwi­der­leg­bar – hat das aber nichts zu tun. Aus sei­ner Sicht ist „Über­ein­stim­mung von Geist und Sache“ bes­ten­falls ein Wahr­heits­kon­zept für Höh­len­be­woh­ner: das­je­ni­ge, wor­in sich in dem Däm­mer­licht der Höh­le bemes­sen lässt, wor­auf man sich ver­las­sen kann, aber nichts, wor­in man sich in Frei­heit bewe­gen könn­te. Dafür näm­lich muss man die Höh­le ver­las­sen und ins Freie tre­ten: in den son­nen­be­schie­ne­nen Raum unter offe­nem Him­mel, in den Raum der Wahr­heit – der alēt­heia, um nun end­lich das grie­chi­sche Wort ein­zu­füh­ren, das wir mit Wahr­heit zu über­set­zen pfle­gen. Was aber ris­kant ist, da die grie­chi­sche alēt­heia etwas ganz ande­res ist als die adaequa­tio intellec­tus ad rem des neu­zeit­li­chen Den­kens. Was ist sie?

Das Wort alēt­heia ist ein Kom­po­si­tum. Es setzt sich zusam­men aus dem Prä­fix a- und dem Stamm lēt­heia. Das a- ist eine Nega­ti­on, die sich im Deut­schen mit un- wie­der­ge­ben lässt, lēt­heia lei­tet sich her von lēthē, das Ver­ges­sen und Ver­ber­gen. So gese­hen ist es eine kor­rek­te Über­set­zung, wenn Mar­tin Heid­eg­ger in sei­nen Arbei­ten alēt­heia kon­se­quent mit Unver­bor­gen­heit über­setzt hat. Denn tat­säch­lich:  Im Raum der Wahr­heit herrscht die Unver­bor­gen­heit – im Raum der Wahr­heit tritt das Sein ans Licht bzw. ins Licht. Hier ereig­net sich – um eine wei­te­re For­mu­lie­rung Heid­eg­gers zu über­neh­men – die Lich­tung des Seins.

Kein Wun­der, so gese­hen, dass Pla­ton im Höh­len­gleich­nis den Frei­raum außer­halb der Höh­le als einen von der Son­ne gelich­te­ten Raum der Wahr­heit beschreibt. Wer sich dort bewegt, fragt – wenn es ihm um Wahr­heit geht – nicht danach, ob etwas der Rea­li­tät ent­spricht. Er macht kei­nen Fak­ten-Check, son­dern wen­det sich den Phä­no­me­nen die­ser Welt im Licht der Son­ne zu – so, dass sich das Sein und Wesen die­ser Phä­no­me­ne zei­gen kann: ihr Sinn.

Wahr­heit ist im grie­chi­schen Ver­ständ­nis nichts ande­res als der freie Raum der Lich­tung, in dem der Sinn der Phä­no­me­ne sicht­bar – oder bes­ser: denk­bar und ver­steh­bar – wird. Die­sen Raum der Wahr­heit kön­nen wir betre­ten, wenn wir nicht nur danach fra­gen, ob eine Infor­ma­ti­on, Theo­rie, Aus­sa­ge etc. den Fak­ten ent­spricht – son­dern wenn wir nach dem Sinn von etwas fahn­den: etwa nach dem Sinn eines Fahr­rads, den ver­stan­den zu haben, ermög­licht, ein wah­res Fahr­rad von einem Pseu­do-Fahr­rad zu unter­schei­den; oder den Sinn des Mensch­seins, den im eige­nen Leben dar­zu­stel­len, bedeu­ten wür­de, ein wah­rer Mensch zu sein.

Sinn ist nicht zu wider­le­gen. Er ist abso­lut. Was den Sinn betrifft, ist es völ­li­ger Unsinn zu behaup­ten, ein jeder habe sei­ne eige­ne Wahr­heit. Das ist eine Weis­heit, mit der sich neu­zeit­li­che Höh­len­be­woh­ner schmü­cken kön­nen, nicht aber grie­chi­sche Den­ker. Denn für sie war klar, dass nie­mand eine Wahr­heit haben kann, son­dern dass es aus­schließ­lich dar­um geht, in der Wahr­heit zu sein – im Unver­bor­ge­nen, Offe­nen und Frei­en: da, wo Mensch und Din­ge sich im Licht des Sinns begeg­nen; da, wo wir wis­sen, dass es nicht nur rich­tig, son­dern gut ist.


[*]  Pla­ton, Gor­gi­as 473b.

Θhink Greek! Denn, das Ältes­te ist zuwei­len das Frischste.

Herz­lich, Christoph

(ver­öf­fent­licht in der Zeit­schrift „Aben­teu­er Phi­lo­so­phie”)