Zurück in die Höhle

Von der digi­ta­len Ver­wahr­lo­sung der ana­lo­gen Welt

Ich fah­re häu­fig mit der Bahn. Seit neu­es­tem nut­ze ich sogar den DB-Navi­ga­tor, der mir sicher sagt, in wel­cher Wagen­rei­hung der ICE die­ses Mal fah­ren wird, wo sich mein Platz befin­det und wie groß die Ver­spä­tung sein wird. Selbst ein digi­ta­ler „Kom­fort Check-in“ ist damit inzwi­schen mög­lich. Alles tol­le Tech­nik, leis­tungs­star­ke Algo­rith­men. Doch dann sit­ze ich im Zug, der selbst­ver­ständ­lich wie­der­mal ver­spä­tet ist, die Toi­let­ten sind defekt und bei den Wagen­tü­ren fin­det sich die eine oder ande­re, die sich nicht mehr öff­nen lässt. Und dann fra­ge ich mich, was da los ist: Offen­kun­dig hat die Bahn gewal­tig in den digi­ta­len Ser­vice inves­tiert –gleich­zei­tig jedoch ihr eigent­li­ches Pro­dukt aus den Augen ver­lo­ren. Denn im Ernst: Wer braucht einen DB-Navi­ga­tor, wenn die Züge chro­nisch unpünkt­lich fah­ren, die Toi­let­ten gesperrt sind und die Zug­tü­ren nicht aufgehen? 

Manch­mal fah­re ich mit dem Auto. Da ist neu­es­te Tech­nik drin ver­baut. Auto­ma­tisch wird der Abstand zu dem Wagen vor mir ein­ge­hal­ten, auto­ma­tisch wird von Abblend­licht zu Fern­licht umge­schal­tet, auto­ma­tisch sucht das Navi mei­nen Weg durchs Stra­ßen­wirr­war. Und schon bald fährt mei­ne Kis­te – wenn’s so kommt, wie man’s ver­spricht – ohne­hin ganz auto­nom und frei­hän­dig. Bloß blöd, dass ich dau­ernd im Stau ste­he, dass gefühlt jede zwei­te Brü­cke saniert wird, dass die Park­plät­ze über­quil­len und dass die Stra­ßen maro­de sind. Und ich fra­ge mich: Was ist hier los? Tol­le digi­ta­le Tech­nik, doch die ana­lo­ge Welt wird immer sper­ri­ger und unbe­que­mer. Merk­wür­di­ges Missverhältnis.

Hin­ge­rotz­te Vintage-Welt

Neu­lich war ich in Ber­lin, hat­te Zeit und such­te mir per Smart­phone einen coo­len Space zum Arbei­ten; kam dahin und sah die Leu­te, die sich dort in Vin­ta­ge-Kla­mot­ten auf Vin­ta­ge-Stüh­len bie­gen und an schlich­ten Holz­ti­schen in ihren Lap­top star­ren. Neben sich ein Papp­be­cher und irgend­ei­ne Tüte von dem Food-Pro­vi­der neben­an. Alles Sachen, die auf einem Smart­phone-Moni­tor ganz schick und läs­sig rüber­kom­men, doch bei nähe­rer Betrach­tung ein­fach bil­lig, schmud­de­lig und lieb­los hin­ge­rotzt erschei­nen. Wie­der fra­ge ich mich, was da los ist. Wie­der stel­le ich die gro­ße Dis­kre­panz fest, die zwi­schen den immer hüb­sche­ren, auf­ge­hell­ten, optisch opti­mier­ten Bil­dern aus der vir­tu­el­len Welt locken und der run­ter­ge­kom­me­nen, zuneh­mend häss­li­chen und unge­pfleg­ten ana­lo­gen Wirk­lich­keit besteht. Und in mei­nem Kopf brennt sich ein Wort ein, das mich schon seit Wochen nicht mehr los­lässt: Ver­wahr­lo­sung.

Eines der Juwe­len im Schatz­haus der deut­schen Spra­che ist das Ver­bum wah­ren. Es ist, zuge­ge­ben, nicht mehr recht gebräuch­lich, doch man kennt es von Wen­dun­gen wie: „Die Bay­ern haben sich eine Chan­ce aufs Fina­le gewahrt.“ Oder: „Sie wahr­te ihre Con­ten­an­ce.“ Wenn man etwas wahrt, dann hält man es in der Prä­senz und hütet es vor dem Ver­schwin­den. Von dem Ver­bum wah­ren las­sen sich noch ande­re wun­der­vol­le Wor­te her­lei­ten: gewah­ren, bewah­ren, ver­wah­ren. Sie wei­ßen alle in die­sel­be Richtung: 

Wer etwas gewahrt, ver­ge­gen­wär­tigt sich das Gewahr­te. Es ist ihm in sei­ner Wahr­neh­mung prä­sent, wird ihm durch sei­ne Wahr­neh­mung zu dem, was ihm in Wahr­heit gegen­wär­tig ist. Wer etwas bewahrt, sorgt dafür, dass ihm das zu Bewah­ren­de nicht mehr abhan­den­kommt und sucht einen Ort, an dem er es prä­sent und gegen­wär­tig hält. Wer jedoch etwas ver­wahrt, sperrt das zu Ver­wah­ren­den so sicher weg, dass es ihm sel­ber nicht mehr gegen­wär­tig ist. Das Prä­fix ver- weist hier auf ein ent­ge­gen­wär­ti­gen­des Ver­schwin­den, so dass das Ver­wah­ren eine para­do­xe Wei­se des Wah­rens ist.

Wan­del der Wahrheit

War­um die­ser Aus­flug in die Spra­che? Weil die Spra­che uns auf etwas hin­weist, das mit unse­rem Ein­gangs­the­ma viel zu tun hat: Wenn Ver­wahr­lo­sung zum The­ma wird, hat das immer etwas damit zu tun, was und wie wir wah­ren: wie wir die Welt gewah­ren, was uns bewah­rens­wert erscheint, was wir ver­wah­ren – und was wir ver­wahr­lo­sen las­sen. Dies alles ent­schei­det sich näm­lich ein­zig dar­an, was einer Kul­tur als wahr erscheint. Ändert sich das in einer Kul­tur in Gel­tung ste­hen­de Ver­ständ­nis von Wahr­heit, kommt es unwei­ger­lich dazu, dass das­je­ni­ge, was einst als Wah­res galt, nicht mehr als wahr gewahrt oder bewahrt wird, und folg­lich der Ver­wahr­lo­sung anheim fällt.

Eben dies geschieht zu eben die­ser Zeit in eben die­ser Welt. Und die ein­gangs lose gesam­mel­ten Erfah­run­gen, sind nichts ande­res als die Sym­pto­me eines Wan­dels, der viel tie­fer greift als man gemein­hin ahnt. Denn mit­nich­ten han­delt es sich bei der beschrie­be­nen Ver­wahr­lo­sung bloß um die bedau­er­li­chen Aus­wüch­se von Schlam­pe­rei und Miss­wirt­schaft. Nein, das Pro­blem liegt tie­fer: Es liegt dar­in, dass sich in der Matrix des Den­kens vie­ler Men­schen die Wei­se ihres Welt­ge­wah­rens nach­hal­tig ver­än­dert hat. Sie gewah­ren näm­lich längst nicht mehr allein die ana­lo­ge Welt der Din­ge, son­dern ihre Wahr­neh­mung weilt immer mehr und immer inten­si­ver im vir­tu­el­len Raum der Apps und Games. 

Was sie dort gewah­ren, prägt nicht nur die Wahr­neh­mungs­ge­wohn­hei­ten, son­dern auch die Denk­ge­wohn­hei­ten: Ohne dass wir es mer­ken, scheint uns das, was wir so hübsch und auf­ge­räumt, so opti­miert und maxi­miert aus unse­ren Moni­to­ren vor uns flim­mert, wah­rer oder wirk­li­cher zu sein, als das, was wir da drau­ßen auf den Stra­ßen, in den Zügen oder den Cafés zu rie­chen, schme­cken und füh­len bekommen.

Schat­ten­spie­le

Dar­in glei­chen wir den Höh­len­men­schen Pla­tons: jenen bekla­gens­wer­ten Krea­tu­ren, die zeit ihres Lebens gezwun­gen sind auf eine Wand zu star­ren, auf der ihnen – einer Kino­lein­wand gleich – fort­wäh­rend Schat­ten­spie­le vor­ge­führt wer­den: Bil­der­flu­ten, die sie in Unkennt­nis der Tech­nik der Pro­jek­ti­on und des Gebrauchs einer Licht­quel­le für die ein­zi­ge und unum­stöß­li­che Wahr­heit hal­ten. Die­se Men­schen, so Pla­ton, kön­nen allein durch einen müh­sa­men und auf­wen­di­gen Pro­zess der Bil­dung zu der Ein­sicht geführt wer­den, dass das, was sie zu gewah­ren gewohnt sind, nicht das wahr­haft Sei­en­de ist. Bil­dung wird so als eine Neu­aus­rich­tung oder Schu­lung des Gewah­rens vor­ge­stellt, die den Men­schen dazu bringt, sei­ne Wahr­neh­mung nicht allein auf arti­fi­zi­ell gene­rier­te Pro­jek­tio­nen zu len­ken, son­dern auf das­je­ni­ge, was da jeweils pro­ji­ziert wird: erst die rea­len, ana­lo­gen Din­ge die­ser Welt, spä­ter dann – und damit wird die Sache kom­pli­ziert – die Ideen, der Sinn der Din­ge, der an ihnen je ver­ständ­lich ist. Aber das muss uns an die­ser Stel­le nicht beschäftigen.

Was für uns besorg­te Inter­pre­ten unse­rer Welt beden­kens­wert sein dürf­te, ist der Umstand, dass die Ver­wahr­lo­sung der Welt die unab­ding­ba­re Fol­ge ihrer zuneh­men­den Digi­ta­li­sie­rung ist. Je mehr sich Men­schen aus der ana­lo­gen Welt in den vir­tu­el­len Raum ihrer digi­ta­len Maschi­nen zurück­zie­hen und das, was sie dort prä­sen­tiert bekom­men, als die Wahr­heit gewah­ren — ver­wahr­lost unse­re ana­lo­ge Welt. Erst die Klo­tü­ren, dann die Stra­ßen, dann die Cafés, dann die Klei­dung, dann das Essen, dann die Lei­ber, dann die Woh­nun­gen, die Gär­ten, Fel­der, Wäl­der, die Natur. Nicht aus Schlam­pe­rei und Fahr­läs­sig­keit, son­dern weil sich unbe­merkt unse­re Wahr­neh­mung ver­scho­ben hat und wir die ana­lo­ge Welt der Din­ge für weni­ger wahr erach­ten als die digi­ta­le Welt der pro­ji­zier­ten Bil­der. Oder trau­en Sie nicht auch eher den Anwei­sun­gen ihres Navi­ga­ti­ons­sys­tems als dem frem­den Pas­san­ten am Stra­ßen­rand, den sie nach dem Weg gefragt haben?

Wir sind auf dem Weg zurück in die Höh­le. Cave­man ist kein tes­to­ste­ron­ge­steu­er­ter Blö­di­an, son­dern der User, der dem Moni­tor vor sei­ner Nase mehr Rea­li­tät zubil­ligt als dem Stuhl, auf dem er sitzt. Cave­man ist nicht einer, der die Keu­le schwingt und grölt, son­dern einer,  der vor sei­nen digi­ta­len Zau­ber­bil­dern ganz ver­stummt ist. Unse­re digi­ta­le Höh­le ist so auf­ge­räumt, ste­ril und sicher, dass sich nie­mand dar­in vor Säbel­zahn­ti­gern oder Mikro­or­ga­nis­men fürch­ten muss. Alles ist so ein­fach und bequem. Müllraus­brin­gen oder Spü­len ist nicht ange­zeigt, Klo­put­zen und Stra­ßen­tee­ren fin­det hier nicht statt. Blöd ist bloß, wenn die Ver­wahr­lo­sung zuletzt auf unse­re Lei­ber und auf unse­re See­len über­springt; denn dann könn­te es zu spät sein, noch der Wahr­heit ins Gesicht zu schau­en: drau­ßen, im Frei­en, wo das Leben ist. Denn zu leben könn­te unser digi­ta­ler Cave­man dann bereits ver­lernt haben.