Zum Jahreswechsel 2022 – 2023

Bei einer jüngs­ten Umfra­ge stimm­ten 61 Pro­zent der Deut­schen der Aus­sa­ge zu: „Wenn man an die aktu­el­len Kri­sen und Pro­ble­me denkt, war 2022 das schlimms­te Jahr seit lan­gem“. Das lässt tief bli­cken: tief in die geis­ti­ge Matrix ei-ner Gesell­schaft, die ihre Resi­li­enz und Kri­sen­kom­pe­tenz ein­ge­büßt zu haben scheint. Erstaun­lich in einem Land, das sich im 20. Jahr­hun­dert mehr­fach neu erfun­den hat, nach­dem es kata­stro­phal in die Irre ging. Was ist los? Sind wir ein­fach nur erschöpft? Oder steckt mehr dahinter?

In mei­nen Augen ver­rät das Umfra­ge­er­geb­nis, dass unse­re gesell­schaft­li­ches Kli­ma von einem kol­lek­ti­ven Mind­set geprägt ist, der es vie­len schwer macht, den Rea­li­tä­ten des 21. Jahr­hun­derts ange­mes­sen zu begeg­nen. Man muss kein Pro­phet sein, um zu pro­gnos­ti­zie­ren, dass die­ses Jahr­hun­dert noch weit gra­vie­ren­de­re Kri­sen für uns bereit­hält als das, was sich in 2022 zuge­tra­gen hat. Und es braucht kei­nen beson­de­ren Scharf­sinn, um zu erken­nen, dass wir die­se Her­aus­for­de­run­gen nur gemein­sam, als Kol­lek­tiv bestehen kön­nen. Aber davon sind wir weit ent­fernt. Das Pro­blem heißt: Selbstbezüglichkeit.

Zum Jah­res­wech­sel habe ich eine Rei­he von Rund­brie­fen her­hal­ten, die stets den glei­chen Ton anschla­gen: Kon­zen­trie­re dich auf dein Geschäft! Mach dein Ding! Gestal­te dei­ne Umge­bung! Immer geht es nur um das Sub­jekt, das sich zum Mit­tel­punkt sei­ner Welt machen soll – meist gar­niert mit einer faden Psy­cho­lo­gie der Selbst­op­ti­mie­rung, der jeder Sinn für die sozia­le Dimen­si­on des Lebens ver-loren gegan­gen ist. Eben die­se aber müs­sen wir drin­gend neu ent­de­cken und kul­ti­vie­ren. Denn die Her­aus­for­de­run­gen des 21. Jahr­hun­derts wer­den nur durch eine gesamt­ge­sell­schaft­li­che Anstren­gung zu schul­tern sein, kei­nes­wegs aber durch die Opti­mie­rungs­lüs­te selbst­be­züg­li­cher Subjekte.

Die Zeit der Selbst­be­züg­lich­keit ist vor­bei. Wer immer nur sich selbst, sei­nen eige­nen Erfolg, sei­ne eige­ne Gesund­heit, sei­ne eige­ne Macht und sei­ne per­sön­li­che Frei­heit im Blick hat, wird der unge­wis­sen Zukunft ent­we­der mit Angst und Ver­zagt­heit begeg­nen, oder es sich taten­los in der Kom­fort­zo­ne sei­nes Wohl­stands, sei­nes Kon­sums oder sei­ner Theo­rien bequem machen – bis er unsanft aus die­ser Trance geweckt wird und dann jedes Jahr aufs Neue glaubt, es sei das „Schlimms­te seit lan­gem“ gewe­sen. So kom­men wir nicht in die Zukunft. In die Zukunft kom­men wir nur gemein­sam als eine star­ke, demo­kra­ti­sche, euro­päi­sche Gesell­schaft. Wir brau­chen ein sys­te­mi­sches Den­ken, dem klar ist, dass Leben nur als Gemein­schafts­pro­jekt gelin­gen kann.

Gemein­sinn und sozia­les Bewusst­sein sind das Gebot der Stun­de. Gemein­sam kann man etwas bewe­gen. Aus Gemein­schaft wach­sen Zuver­sicht und Taten­drang, Resi­li­enz und Krisenfestigkeit.

Und eben das ist mein Wunsch für uns alle und an uns alle: dass 2023 ein Jahr der geis­ti­gen Dis­rup­ti­on wer­de – des Erwa­chens aus der Trance der Selbst­be­züg­lich­keit hin zu einem star­ken euro­päi­schen Gemeinsinn.

Chris­toph Quarch, Ful­da – 31.12.22