Unberechenbarkeit

»Alles eine Frage von Daten-Input und möglichst genauen Algorithmen«, sagt Hossein Rahnama, und erklärt damit, wie es ihm möglich sein wird, in absehbarer Zukunft dem Menschen zur Unsterblichkeit zu verhelfen: als digitaler Datenklon, der – wenn auch sein Leib schon längst verblichen ist – doch immer noch mit seinen Hinterbliebenen per Whatsapp im Gespräch ist. Der Weg zur Ewigkeit klingt völlig simpel: Man speichert alle digitalen Daten, die man zu Lebzeiten generiert hat und lässt aus diesen dann hochrechnen, was man etwa bei der Festrede zum 50. Geburtstag seines Urenkels wohl sagen würde. So lebt man fort in alle Ewigkeit … als ausgerechneter Datensatz. Ausgerechnet!
Man könnte das lustig finden, bekundete sich darin nicht ein Ungeist, der erschaudern lässt. Denn was geschieht hier wirklich? Es ist ein Dreifaches: Zunächst wird der Mensch darauf reduziert, eine Summe von digitalisierbaren Informationen zu sein. Sodann wird unterstellt, es sei möglich, auf der Grundlage digitalisierter Informationen das künftige Verhalten, Denken und Sagen eines Menschen zu berechnen. Und schließlich wird das digital errechnete Verhalten eines Menschen mit dessen Wesen gleichgesetzt.
Doch damit nicht genug. Denn hat diese Gleichsetzung erst stattgefunden, dann schlägt das Pendel zurück und der Mensch fängt an, daran zu glauben, sein Leben sei tatsächlich nichts anderes als ein Bündel von Daten und Algorithmen. Und wenn er dann von diesem Wahn durchdrungen ist, wird er klaglos akzeptieren, dass man ihn künftig entweder durch Roboter und Cyborgs ersetzt; oder – viel besser noch – er wird bereit sein, viel Geld dafür aufzubringen, sich selbst digital aufzurüsten, um sich nach Maßgabe der künstlichen Intelligenz zu perfektionieren und zu optimieren.
In Wahrheit betrügt der Mensch sich dabei um sein Leben. Und um seine Freiheit, vor allem aber um seine Würde. Denn des Menschen Würde liegt in gar nichts anderem als darin, dass er unberechenbar ist. Es war eine kostbare Erkenntnis der Renaissance und der Aufklärungsphilosophie, dass des Menschen Menschlichkeit sich dort entfaltet, wo er nicht den berechenbaren Gesetzen und Notwendigkeiten der Natur unterliegt. Heute tut es Not, diese Wahrheit neu zu Ehren zu bringen, indem man sagt: Freiheit, Würde und Menschlichkeit gründen darin, dass der Mensch nicht den Gesetzen und Notwendigkeiten von Algorithmen unterworfen ist, sondern sich der digitalen Berechenbarkeit entzieht.
Unberechenbarkeit sollte als eine Tugend gefeiert werden. Sie ist es, die uns über alle Maschinen erhebt. Sie zur Lebensform zu erheben, ist der subversive Akt, der uns aus den Klauen derer befreien kann, die uns schon jetzt als berechenbaren Konsumenten-Datensatz vermarkten und mit lauter digitaler Werbung beglücken, die wir zwar nie wollten, die aber per Algorithmus für uns persönlich »ausgewählt« wurde.
Aus alledem spricht jener unselige Ungeist der Entmenschlichung des Lebens, den Forscher wie Hossein Rahnama uns als grandiose Innovation andienen wollen – ja, als Lösung des größten Menschheitsrätsels, des Todes. In Wahrheit zeigt sich aber darin nur, was Menschheitsweisheit je schon wusste: Der Herausforderung des Todes entgeht man nur um den Preis der Menschlichkeit und Menschenwürde. Als Menschen sind wir Sterbliche. Als Sterbliche bleibt unser Leben unberechenbar. Ganz wie auch unser Sterben. Und das ist gut so.