Schluss mit dem Schonwaschgang!

Das fik­ti­ve Philosophen-Interview

Nietz­sche sagt: Die Ver­nunft gehört in den Restmüll!

Wenn wir jeman­dem zum Geburts­tag gra­tu­lie­ren, wün­schen wir oft „und vor allem Gesund­heit“. Klar, denn Gesund­heit ist für vie­le Men­schen das höchs­te Gut. Gera­de in Zei­ten einer Pan­de­mie. Aber ist Gesund­heit, wirk­lich das Wich­tigs­te im Leben? Fried­rich Nietz­sche war immer krank – und hat sich gera­de des­halb viel Gedan­ken über die Gesund­heit gemacht. Was dabei raus­ge­kom­men ist, erklärt er in unse­rem fik­ti­ven Inter­view mit dem Phi­lo­so­phen Chris­toph Quarch

THE RED BULLETIN: Herr Nietz­sche, wie geht es Ihnen heute?

Nietz­sche: Die Kopf­schmer­zen haben nach­ge­las­sen. Obwohl ich mir nach wie vor den Kopf über die Men­schen zer­bre­che – also, ich mei­ne, über Ihre Zeit­ge­nos­sen. Sehen Sie mal, es ist bald 150 Jah­re her, da ich über die Men­schen der Moder­ne schrieb: „Man hat ein Lüst­chen für den Tag und ein Lüst­chen für die Nacht. Aber man ehrt die Gesund­heit.“ Dar­an hat sich nichts geändert.

Mit die­sen Wor­ten aus „Also sprach Zara­thus­tra“ haben Sie die­je­ni­gen ver­spot­tet, die sie „die letz­ten Men­schen“ nann­ten. Was fin­den Sie so pro­ble­ma­tisch dar­an, dass Men­schen die Gesund­heit ehren?

Wir allen wol­len gesund sein. Ich auch. Mei­ne Güte, Sie kön­nen sich nicht vor­stel­len, wie sehr ich unter mei­nen Kopf­schmer­zen gelit­ten habe. Ich bin quer durch Euro­pa gereist, um Orte zu fin­den, an denen ich es irgend­wie aus­hal­ten konn­te. Aber das heißt nicht, dass ich alles mei­ner Gesund­heit unter­ge­ord­net hät­te. Ich woll­te gesund sein, um mei­ne Arbeit machen zu kön­nen: um etwas zu schaf­fen. Denn das, mein Freund, ist es, wor­um es im Leben geht: Schöp­fe­risch sein, krea­tiv sein, etwas Eige­nes hinterlassen.

Aber Sie sagen selbst, dass man dafür gesund sein muss.

Sage ich nicht. Ich war auch nie gesund und habe trotz­dem Gro­ßes geschaf­fen. Wahr­schein­lich wäre mir das nie gelun­gen, wenn ich nicht mei­ne Krank­heit in eine Ener­gie­quel­le ver­wan­delt hät­te. Es ging mir immer­zu besch….eiden – ja, aber gera­de des­halb habe ich wie wahn­sin­nig gear­bei­tet; gera­de des­halb habe mein Bes­tes geben kön­nen. Ich wuss­te, was ich woll­te – und das war viel mehr, als mich um mei­ne Gesund­heit zu küm­mern, mir etwas Schö­nes zu gön­nen oder im Spa rum­zu­hän­gen. Unter uns, mein Freund: Dass ihr so viel um eure Gesund­heit kreist und so viel Auf­he­bens um eure Weh­weh­chen macht, ver­rät mir, dass ihr klein gewor­den seid: Zwer­ge, die kei­ne Idee mehr davon haben, wofür sie leben wol­len. Ihr lasst euch trei­ben und macht, was alle machen.

Naja, aber es kön­nen doch nicht alle so gro­ße Autoren wer­den, wie Sie, Herr Nietzsche.

Na und? Jeder kann in sei­nem Umfeld etwas Gro­ßes schaf­fen. Jeder kann sei­ne ver­damm­ten Träu­me ver­wirk­li­chen. Jeder kann tan­zen, wenn er nur woll­te. Aber ihr wollt nichts – außer ein biss­chen Spaß haben und gesund sein! Und dann redet ihr euch auch noch ein, dass ihr ganz beson­ders ver­nünf­tig seid, wenn ihr alles die­sen Zie­len unter­ord­net. Ich aber sage euch: Genau die­se ‚Ver­nunft‘ könnt ihr in eure Rest­müll­ton­ne Klop­fen. Die­se ‚Ratio­na­li­tät‘ ver­hin­dert, dass ihr wachst und gro­ße Men­schen wer­det: Men­schen, die sich dem Leben stel­len, die sich dem Schmerz stel­len – die ob ihre Schwä­che lachen und der Stim­me ihres Her­zens folgen.

Hm, und was müss­te man Ihrer Ansicht nach tun, um – wie Sie sagen – ein gro­ßer Mensch zu sein?

„Man muss noch Cha­os in sich haben, um einen tan­zen­den Stern gebä­ren zu kön­nen.“ Bes­ser kann ich es nicht sagen. Schluss mit der ewi­gen Nüch­tern­heit und dem Schon­wasch­gang! Mut zum Rausch statt ängst­lich rum­düm­peln, wäre mei­ne Devi­se. Was man dafür braucht? Ein lei­den­schaft­li­ches Herz, sonst nichts. Und das wohnt sogar in dei­ner Brust, mein Freund.

Fried­rich Nietz­sche (1844 bis 1900) gilt als einer der schärfs­ten Kri­ti­ker der tech­nisch-ratio­na­len Moder­ne. Mit sei­nem „Also sprach Zara­thus­tra“ inspi­rier­te er Gene­ra­tio­nen von Künst­lern und Den­kern, neue Wege zu gehe. Dabei war Nietz­sche häu­fig krank. Immer wie­der­keh­ren­de Migrä­ne­schü­be zwan­gen ihn dazu, von 1879 bis 1889 quer durch Euro­pa zu rei­sen, um Orte zu fin­den, an denen er es aus­hal­ten konn­te. In die­ser Zeit schrieb er viel über die leib­li­che und geis­ti­ge Gesund­heit des Menschen.

(Ver­öf­fent­licht in The Red­Bul­le­tin Jan./Feb. 2022)