Im Tunnel der Alternativlosigkeit

Mit dem neu­en Infek­ti­ons­schutz­ge­setz begibt sich Deutsch­land auf einen heik­len Weg

Am 21. April 2021 hat der Deut­sche Bun­des­tag eine Neu­fas­sung des Infek­ti­ons­schutz­ge­set­zes beschlos­sen. Erklär­tes Ziel der Bun­des­re­gie­rung ist es, mit einer bun­des­wei­tes „Not­brem­se“ die soge­nann­te „drit­te Wel­le“ der Covid-Pan­de­mie in Deutsch­land ein­zu­däm­men. Schon im Vor­feld wur­den zahl­rei­che recht­li­che und poli­ti­sche Ein­wän­de gegen die Geset­zes­vor­la­ge vor­ge­bracht, selbst im Bun­des­kanz­ler­amt wur­den zahl­rei­che Beden­ken laut. Eben­so wenig wie die Andro­hung einer Ver­fas­sungs­kla­ge sei­tens der Frei­en Demo­kra­ten hat all das die Frak­tio­nen der Regie­rungs­par­tei­en davon abge­hal­ten, dem Gesetz zuzu­stim­men und damit einer nie da gewe­se­nen Zen­tra­li­sie­rung der deut­schen Poli­tik den Weg zu berei­ten. So alter­na­tiv­los scheint das Dik­tat der Pan­de­mie, dass man bereit ist, zu ihrer Bekämp­fung das Föde­ra­lis­mus­prin­zip außer Kraft zu set­zen und damit den wich­tigs­ten und bewähr­tes­ten kon­sti­tu­tio­nel­len Pfei­ler der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land zu beschädigen.

War­um sind die Regie­rungs­par­tei­en bereit, einen so hohen Preis für den Infek­ti­ons­schutz zu zah­len? War­um sind die Regie­ren­den nicht län­ger wil­lens, alter­na­ti­ve Wege wie in Tübin­gen oder im Saar­land zu dul­den? Weil sie dem Dik­tat eines Den­kens erle­gen sind, das ihnen fälsch­li­cher­wei­se sug­ge­riert, der von ihnen ein­ge­schla­ge­ne Weg sei alter­na­tiv­los.

Den Begriff der Alter­na­tiv­lo­sig­keit poli­tisch hof­fä­hig gemacht hat Bun­des­kanz­le­rin Ange­la Mer­kel. Wie­der­holt hat sie ihn ver­wen­det, um den von ihr pro­pa­gier­ten Weg der Pan­de­mie­be­kämp­fung zu recht­fer­ti­gen. Die Gefahr, der sie damit unse­re Demo­kra­tie aus­ge­setzt hat, scheint sie nicht zu sehen. Das ist inso­fern ver­ständ­lich, als sie an der Ober­flä­che des poli­ti­schen All­tags kaum sicht­bar ist. Gera­de da aber liegt das Pro­blem. Denn das Dik­tat eines in Kate­go­rien der Alter­na­tiv­lo­sig­keit den­ken­den Mind­sets berei­tet unmerk­lich und unter­grün­dig einen Weg zur Dik­ta­tur. Er lässt das Fun­da­ment der Demo­kra­tie lang­sam ero­die­ren, indem es den Frei­raum des Poli­ti­schen ver­engt. Dort, im Frei­raum des Poli­ti­schen wirkt Alter­na­tiv­lo­sig­keit wie ein Ner­ven­gift. Und da kei­ne Demo­kra­tie ohne den Raum des Poli­ti­schen denk­bar ist, sagt man nicht zu viel, wenn man den Mind­set der Alter­na­tiv­lo­sig­keit als Gefahr auf die demo­kra­ti­sche Kul­tur entlarvt.

Der Raum des Poli­ti­schen ist ein offe­ner und unbe­re­chen­ba­rer Raum. Es ist der Raum, in dem Wert­kon­flik­te gewalt­frei aus­ge­tra­gen wer­den. So wäre es der Raum des Poli­ti­schen, indem wäh­rend der Covid-Pan­de­mie dar­um gerun­gen wer­den müss­te, wel­che Zie­le die Regie­rungs­po­li­tik ver­fol­gen und wel­chen Wer­ten sie genü­gen soll. Er wäre der Ort für Debat­ten zu Fra­gen wie die­sen: Ist der höchs­te Wer­te des Gemein­we­sens der unbe­ding­te Erhalt jedes ein­zel­nen Men­schen­le­bens – und ist die Mini­ma­li­sie­rung von pan­de­mie­be­ding­ten Ster­be­fäl­len des­halb das obers­te Ziel aller poli­ti­schen Inter­ven­tio­nen? Oder ist die Bil­dung der Jugend als Garant sei­ner Zukunft der höchs­te Wert des Gemein­we­sens – und die Auf­recht­erhal­tung des Schul- und Hoch­schul­be­triebs das vor­dring­lichs­te Ziel der Covid-Maß­nah­men? – Um nur einen mög­li­chen Dis­kurs zu skiz­zie­ren, der drin­gend geführt wer­den müsste.

Denn bei­de Sicht­wei­sen sind gut begrün­det, bei­de sind mit der Ver­fas­sung kom­pa­ti­bel – und nicht nur sie. Auch die Bewah­rung der Kul­tur­land­schaft, der Wirt­schaft oder des sozia­len Frie­dens wären Wer­te, die mit dem des unbe­ding­ten Erhalts von Leben begrün­det kon­kur­rie­ren dürf­ten. Doch fin­det eine Wer­te­dis­kurs über die Zie­le der Pan­de­mie-Ein­däm­mung nicht statt. Die regie­rungs­sei­tig ver­tre­te­ne Aus­le­gung bedient aus­schließ­lich eine nicht wei­ter infra­ge zustel­len­de Wert­set­zung: Leben muss erhal­ten und Tria­ge-Ent­schei­dun­gen in Kli­ni­ken müs­sen ver­mie­den wer­den. Ist die­se Ziel­set­zung erst ein­mal durch­ge­setzt und dem öffent­li­chen Dis­kurs ent­zo­gen, dann ist der Weg für das Kon­zept Alter­na­tiv­lo­sig­keit berei­tet. Nun erscheint es nicht nur akzep­ta­bel, son­dern sinn­voll – sinn­voll nach Maß­ga­be eines nicht mehr infra­ge gestell­ten Ziels, dem alle poli­ti­schen Inter­ven­tio­nen als Mit­tel zum Zweck die­nen müs­sen.

Dadurch ist der Keim zur Dik­ta­tur gelegt: Nicht eine Per­son übt sie aus, son­dern eine dem Raum des Poli­ti­schen ent­zo­ge­ne Ziel­set­zung – eine Ziel­set­zung, deren ver­meint­lich unbe­ding­te Gel­tung ihre Allein­herr­schaft begrün­det und die ihr dien­li­chen Mit­tel dekre­tiert. Denn gesetzt, das Ziel steht unbe­irr­bar fest, dann stellt sich in jeder kon­kre­ten Ent­schei­dungs­si­tua­ti­on ledig­lich die eine Fra­ge: Wel­che kon­kre­te Maß­nah­me dient dem Ziel am bes­ten, am effi­zi­en­tes­ten, am schnells­ten, am dau­er­haf­tes­ten? Sol­che Fra­gen zu ent­schei­den, erfor­dert nicht län­ger den offe­nen Raum des Poli­ti­schen, in dem Bür­ger um Wer­te und Zie­le rin­gen. Sie zu ent­schei­den, dele­giert man an Exper­ten bzw. Inge­nieu­re und deren instru­men­tel­le Ver­nunft, kraft derer sie die ange­zeig­ten Maß­nah­men be- oder errech­nen kön­nen. In der Welt des Rech­nens bzw. der Berech­nun­gen ist kein Platz für das Poli­ti­sche. Anders als in der poli­ti­schen Welt der Wer­te, die um die Kate­go­rien ange­mes­se­ner oder unan­ge­mes­se­ner kreist, herr­schen im Raum des Rech­nens die Kate­go­rien rich­tig und falsch – und die Kate­go­rie alter­na­tiv­los.

Wenn es dar­um geht, die Funk­ti­on einer Maschi­ne auf­recht­zu­er­hal­ten, dann mag es nach ein­ge­hen­den Berech­nun­gen auf der Grund­la­ge aller ver­füg­ba­ren Infor­ma­tio­nen alter­na­tiv­los erschei­nen, sich für eine Maß­nah­me zu ent­schei­den. Wenn ein Chir­urg eine Ope­ra­ti­on durch­führt, dann mag es nach Maß­ga­be derer Ziel­set­zung alter­na­tiv­lo­se Optio­nen geben. Und wenn ein Unter­neh­men sei­nen Pur­po­se dar­in erkannt hat, sei­nen Pro­fit zu maxi­mie­ren, kann Alter­na­tiv­lo­sig­keit bei Bör­sen­trans­ak­tio­nen eine sinn­vol­le Kate­go­rie sein. Es ist ver­füh­re­risch, die­se Denk­wei­se in die Poli­tik zu über­tra­gen, denn sie ent­las­tet die Poli­ti­ker von der Ver­ant­wor­tung, für Wer­te und Zie­le ein­zu­ste­hen und ver­spricht ihnen zudem eine Fes­ti­gung ihrer Macht: Denn wenn die Dik­ta­tur der dem Dis­kurs ent­zo­ge­nen Zie­le errich­tet ist, wird es dem poli­ti­schen Geg­ner schwer, Wider­stand zu leis­ten; weil der Raum des Poli­ti­schen geschwun­den und durch Exper­ti­se und Kal­kül domi­niert wird. Wohin das führt, lässt sich inzwi­schen abse­hen: Da das Kal­kül von intel­li­gen­ten Maschi­nen sehr viel bes­ser exe­ku­tiert wer­den kann als von wert­be­haf­te­ten Men­schen, steht zu erwar­ten, dass in der Dik­ta­tur der unhin­ter­frag­ten Zie­le der Raum des Poli­ti­schen dadurch schwin­det, dass er durch Com­pu­ter ver­baut wird – oder durch Exper­ten. So oder so hört er auf zu exis­tie­ren. Und mit ihm schwin­den Demo­kra­tie, Frei­heit, Gemein­sinn und der mensch­li­che Diskurs. 

Wer wis­sen will, wie ein poli­ti­sches Gebil­de aus­sieht, in dem das Poli­ti­sche eli­mi­niert wur­de, der wer­fe einen Blick auf die Volks­re­pu­blik Chi­na. Gewiss, solan­ge die demo­kra­ti­schen Insti­tu­tio­nen in unse­rem Land noch intakt sind und der Rechts­staat funk­tio­niert, sind wir weit von der Dys­to­pie einer Sini­sie­rung Deutsch­lands ent­fernt. Doch man täu­sche sich nicht. Die deut­sche Geschich­te hat den Nach­weis erbracht, dass die Ero­si­on des Poli­ti­schen in den Köp­fen beginnt: dort, wo das Den­ken auf­hört und die Zie­le des poli­ti­schen Han­delns nicht mehr zur Dis­kus­si­on gestellt wer­den. Wer Alter­na­tiv­lo­sig­keit als poli­ti­sche Kate­go­rie ver­wen­det, hat den ers­ten Schritt in den Tun­nel getan. Das neue Infek­ti­ons­schutz­ge­setz voll­zieht den zwei­ten. Sei­en wir wachsam…

Ful­da, 23.4.2021 Chris­toph Quarch