Größe

Nietz­sche sagt ein­mal, das Schö­ne an der Grö­ße sei, dass man so vie­les unter sich sehe, wenn man sie erst habe. Der gro­ße Mensch, heißt es nicht zufäl­lig, steht über den Din­gen. Sie rei­chen nicht an ihn her­an – erst recht nicht, wenn sie klein sind. Ein gro­ßer Mensch ist daher auch nicht gleich belei­digt, wenn irgend­je­mand ihn ver­spot­tet oder schlecht über ihn redet. Er lächelt mild dar­über, denn er ist sich sei­ner sicher. Das eben macht den gro­ßen Men­schen aus: Er weiß um sei­nen Wert, um sei­ne Wür­de, sei­ne Ehre. Sie sind mit ihm durch Leid und Schmerz gewach­sen, durch Lie­be und durch Glück. Sie sind die Frucht, bewusst geleb­ten Lebens. Und also braucht er nicht um sie zu fürch­ten, wenn ande­re ihn veralbern.
Wer schnell belei­digt ist oder sich rasch empört, ver­rät, dass sei­ne See­le klein ist. Wer stets um sei­ne Ehre oder sei­ner Wür­de fürch­tet, zeigt damit, dass sie nicht viel wie­gen. Belei­digt­sein ist das Sym­ptom des auf­ge­bläh­ten Egos, das sich bloß künst­lich auf­plus­tert, um sei­ne Unrei­fe, Unsi­cher­heit und Untaug­lich­keit zu ver­tu­schen. Die Glei­chung ist ein­fach und geht immer auf: Je schnel­ler ein Mensch sich belei­digt fühlt, des­to grö­ßer ist sein Ego, des­to klei­ner sei­ner Seele.
Hat man von Jesus je gehört, dass er belei­digt war? Hat Sokra­tes sich je empört? Ver­spot­tet wur­den bei­de reich­lich. Grund zum Belei­digt­sein gab es für sie genug. Doch ihre See­len waren dafür viel zu groß. Sie waren weit und groß genug, um auch die Albern­hei­ten und Gehäs­sig­kei­ten ande­rer Men­schen zu umfan­gen. »Man muss ein Oze­an sein, um einen schmut­zi­gen Strom auf­neh­men zu kön­nen«, sagt Nietz­sche. Jesus und Sokra­tes waren sol­che Ozeane.
See­len­grö­ße war den Grie­chen eine Tugend. Sie wohnt im Her­zen eines Men­schen, des­sen Ego klein gewor­den ist. Sie atmet eine Luft der Lie­be, nicht der Angst. Sie fürch­tet nicht um ihre Wür­de, weil sie weiß, dass die Wür­de der See­le unan­tast­bar ist. Antast­bar – und zu belei­di­gen – ist nur das Ego, das sich eine Wür­de anmaßt, die ihm gar nicht zukommt. Die gro­ße See­le bangt auch nicht um ihre Ehre, denn ihre Ehre liegt in ihrer Lie­be – und die ist grenzenlos.
Es ist kein gutes Zei­chen unse­rer Zeit, dass alle Welt sich andau­ernd belei­digt fühlt. Mit Nietz­sche möch­te man dann seuf­zen: »Es ist alles so klein gewor­den!« Und sei­en Sie ehr­lich: Wann ist Ihnen zuletzt ein gro­ßer Mensch begeg­net – einer, der lie­bend-lächelnd sich der Welt zuwen­det, sei­ner selbst gewiss und schön? Ach, gäbe es von die­sen Men­schen mehr – und weni­ger der auf­ge­bläh­ten klei­nen Geis­ter, die sich noch nicht ein­mal ent­blö­den, nach dem Staats­an­walt zu rufen, wenn einer sich auf ihre Kos­ten einen Spaß erlaubt.