GRENZEN

Das größ­te The­ma unse­rer Zeit heißt Gren­zen. Wer hät­te das gedacht? Wir waren auf dem Weg zur Gren­zen­lo­sig­keit, wir fuh­ren durch Euro­pa ohne Grenz­kon­trol­len, die inner­deut­sche Gren­ze fiel, die Gren­ze zwi­schen West und Ost wur­de porös. Zugleich begann der Sie­ges­zug des gren­zen­lo­sen Mark­tes: Glo­ba­li­sie­rung, Welt­han­del, Finanz­strö­me. Und dann, der vor­erst größ­te Mei­len­stein auf die­sem Weg zur Gren­zen­lo­sig­keit, das Inter­net. Gren­zen­los vie­le Daten, die in Echt­zeit über alle Gren­zen sprin­gen, gren­zen­lo­se Frei­heit im vir­tu­el­len Raum. Soll­te ein alter Traum der Mensch­heit doch noch wahr wer­den? Ein Leben ohne Gren­zen? Ein Traum oder ein Alptraum? 
Im alten Grie­chen­land, wo vor 2500 Jah­ren eine unver­gleich­li­che Kul­tur erblüh­te, sah man das The­ma Gren­ze mit ganz ande­ren Augen. Es war die fes­te Über­zeu­gung jener Men­schen, dass alles Leben Gren­zen braucht und dass im Men­schen­le­ben Gren­zen­lo­sig­keit und Gren­ze nicht zu tren­nen sind. Péras und Ápei­ron – so die grie­chi­schen Wor­te – bedür­fen ein­an­der: Die gren­zen­lo­se Ener­gie des Lebens braucht die Form, die ihr die Gren­ze gibt, erklär­te Pla­ton in sei­nem Phi­le­bos. Und in den Wer­ken sei­nes Schü­lers Aris­to­te­les stößt man auf einen ech­ten Hor­ror vorm Unend­li­chen, der wie ein can­tus fir­mus bei ihm wie­der­kehrt: Der Kos­mos muss einen Anfang haben und das Geld­wachs­tum ein Ende, alles hat ein eige­nes Maß, das ihm die Gren­ze setzt. Sie zu ver­let­zen, führt zu Unheil und Ver­der­ben, mein­te er.
Im Hin­ter­grund des ursprüng­li­chen Den­kens steck­te eine tie­fe Wahr­heit: das Wis­sen um die Gren­ze, die der Tod setzt: θνήτα φρονεῖν – Beden­ke dass du sterb­lich bist! Das war ein viel­zi­tier­tes Wort. Die Gren­ze, die der Tod setzt, wur­de akzep­tiert. Der Mensch ver­stand sich als ein Sterb­li­cher. Man wuss­te, dass Unsterb­lich­keit und Gren­zen­lo­sig­keit dem Men­schen Wert und Wür­de rau­ben. Und man ver­ur­teil­te das Auf­be­geh­ren gegen die­se Gren­ze als maß­los und ver­mes­sen: als hýbris.
Was hät­te wohl ein Sokra­tes gedacht, wenn er von dem erfah­ren hät­te, was die Vor­den­ker der IT-Bran­che uns in Aus­sicht stel­len: die Über­win­dung der Gren­ze von orga­ni­scher und künst­li­cher Intel­li-genz, die Über­win­dung der Gren­ze des Todes durch Digi­ta­li­sie­rung des Gehirns, die Über­win­dung aller Gren­zen durch den Fort­schritt der Robo­ter­tech­nik? Er wäre nicht beglückt dar­über, hät­te uns gewarnt. Und er hät­te uns gefragt, was die­se Gren­zen­über­schrei­tung mit uns Men­schen macht.
Tat­säch­lich sehen wir inzwi­schen klar, wohin es führt, wenn Gren­zen fal­len. Mit ihnen fal­len auch Tabus und Wer­te. Im Inter­net sind nicht nur quan­ti­ta­tiv alle Gren­zen über­schrit­ten, auch qua­li­ta­tiv – vor allem ethisch und mora­lisch – wer­den alle Gren­zen ein­ge­ris­sen: Post­fak­ti­zi­tät. Und was im Inter­net geschieht, ereig­net sich genau­so in der ana­lo­gen Welt aus Fleisch und Blut: Wo Anstands­gren­zen wal­te­ten, herrscht blan­ke Bar­ba­rei. Die gren­zen­lo­se Wirt­schaft und ihr Traum vom gren­zen­lo­sen Fort­schritt schaf­fen eine gren­zen­lo­se Umwelt­ka­ta­stro­phe. Gren­zen­lo­se Fun­da­men­ta­lis­ten und Poli­ti­ker erzeu­gen gren­zen­lo­se Flücht­lings­strö­me, die gren­zen­lo­ses Elend mit sich bringen.
Kein Wun­der, dass der Ruf nach Gren­zen wie­der laut wird! Kein Wun­der, dass man Prä­si­dent der USA wird, wenn man den Men­schen Gren­zen zusi­chert! Kein Wun­der, dass die Bri­ten neue alte Gren­zen wol­len. Die Sche­re öff­net sich bedroh­lich: der Gren­zen­lo­sig­keit im digi­ta­len Raum ent­spricht ein neu­er, mili­tan­ter Ruf nach ana­lo­gen Gren­zen. Doch brin­gen die­se ana­lo­gen Gren­zen die Begrenzt­heit, die das Leben braucht? Wohl eher nicht – genau­so wenig wie die digi­ta­le Gren­zen­lo­sig­keit uns gut tut.
Was ist zu tun? Wir brau­chen Gren­zen, die das Leben schüt­zen. Das heißt vor allem, jene Gren­zen anzu­neh­men, die das Leben setzt. Die Gren­ze mei­nes Lebens ist gezo­gen durch den schlich­ten Umstand, dass ich nicht allein bin: dass neben mir noch ande­re sind, die leben wol­len – dass ich ein Teil des gro­ßen Kos­mos bin, des­sen Geset­ze mir das Leben mög­lich machen und mir Gren­zen set­zen, Gren­zen des Wachs­tums, Gren­zen des Lebens, Gren­zen der Ent­fal­tung; dass ich zu ster­ben habe, damit nach mir ande­res, neu­es Leben auf der Erde wan­deln kann. Begrenzt­heit ist der Preis, den wir dafür zu zah­len haben, dass es Viel­falt und damit auch Schön­heit gibt. Der Wunsch nach Gren­zen­lo­sig­keit ist – recht betrach­tet – gar nichts ande­res als ein ins Gren­zen­lo­se auf­ge­bläh­ter Ego-ismus.
Leben braucht Gren­zen: das zu akzep­tie­ren ist der ers­te Schritt zur Ret­tung. Den Leu­ten, die uns Gren­zen­lo­sig­keit ver­hei­ßen – sei es im digi­ta­len oder ana­lo­gen Raum – soll­ten Sie abschwö­ren. Und Leh­ren – sei­en sie wis­sen­schaft­lich, phi­lo­so­phisch oder spi­ri­tu­ell gewan­det –, die Ihnen die Erfül­lung in der Gren­zen­lo­sig­keit ver­hei­ßen, soll­ten Sie tun­lichst mei­den. Nicht gren­zen­lo­ses Einer­lei ist, was das Leben zur Ent­fal­tung der Leben­dig­keit benö­tigt: son­dern es braucht den Respekt vor jenen Gren­zen, die das bun­te, schö­ne, viel­fäl­ti­ge, bezau­bern­de Kon­zert des Kos­mos über­haupt erst mög­lich machen.
Leben braucht Gren­zen, und die Kunst des Lebens besteht dar­in, die begrenz­ten Wesen so ins Ver­hält­nis zu set­zen, dass sie sich zu einem schö­nen Gan­zen fügen – zu stim­mi­gen Ganz­hei­ten, die mit­ein­an­der und im Wech­sel­spiel Erfül­lung fin­den. Das eben ist das Schö­ne am Pro­jekt Euro­pa: dass es Gren­zen aner­kennt und dabei doch auf einer höhe­ren Ebe­ne ein Gan­zes ist. Das ist auch das Schö­ne eine Part­ner­schaft: dass sie die Gren­ze aner­kennt und liebt, die mir durch einen ande­ren gezo­gen ist.
Am Ende ist es eine Auf­ga­be des Geis­tes, mit Gren­zen – die nun ein­mal da sind und die wir auch brau­chen – rich­tig umzu­ge­hen. Wir brau­chen einen Geist, der Gren­zen nicht besei­tigt, son­dern das Begrenz­te anein­an­der bin­det. Wir brau­chen einen gren­zen­lo­sen Geist der Lie­be und Ver­bun­den­heit. Nur hier ist Gren­zen­lo­sig­keit dem Leben dien­lich. Allein ein sol­cher Geist wird dem genü­gen, was das Leben zur Ent­fal­tung braucht.
Doch nicht nur das. Wir brau­chen fer­ner einen Geist, der Gren­zen setzt, – vor allem in der imma­te­ri­el­len, schein­bar nicht den Geset­zen des Lebens unter­wor­fe­nen digi­ta­len Welt. Nur ein grenz­set­zen­der Geist wird uns vor digi­ta­ler, öko­no­mi­scher und mora­li­scher Hybris ret­ten, denn nur er wird lebens­dien­li­che Gren­zen zu zie­hen ver­mö­gen: Gren­zen, die uns vor der digi­ta­len und mora­li­schen Maß­lo­sig­keit bewah­ren; Gren­zen, die wir drin­gend brauchen.
Das Gren­zen­zie­hen den Popu­lis­ten und Trumps die­ser Welt zu über­las­sen, wäre fatal. Las­sen Sie uns mit­ein­an­der dafür kämp­fen, das Gren­zen wie­der­keh­ren, die dem Leben die­nen – im Den­ken und Han­deln, in Moral und Poli­tik, in Wirt­schaft und im Daten­netz; Gren­zen, die nicht durch Sta­chel­draht und Mau­ern mar­kiert sind; Gren­zen, die ver­bin­den und nicht trennen.