11. Grenzen sind nicht schön, aber unverzichtbar

Woran denken wir, wenn wir an Grenzen denken? Denken wir an Flüchtlinge und Stacheldraht, an Mauern und an Panzersperren? Oder denken wir an die Zartheit der Haut, an die Weichheit einer Aprikosenschale? Auch Haut und Schale sind Grenzen: Grenzen, wie sie die Natur hat wachsen lassen. Es ist gut, sich das für einen Augenblick bewusst zu machen: Jedes Wesen dieser Welt ist in seine Grenzen gewiesen. Alles, was natürlich wächst, wächst bis zu einer bestimmten Grenze, die den Raum definiert, in dem es hier auf Erden walten darf. Das muss so sein, weil sich das Leben systemisch organisiert und nur in umgrenzten Organismen bestehen kann. Durch Schale oder Haut unterscheiden sich Lebewesen vom Rest der Welt und bilden ein nach außen vor unliebsamer Intervention (z. B. Viren) leidlich geschütztes und gleichzeitig in sich geschlossenes System. Das ist gut so. Grenzenloses Leben ist in der Natur genauso wenig möglich wie grenzenloses Wachstum.

Diese kleine Reflexion auf die belebte Welt sei dem vorausgeschickt, was nunmehr zu bedenken ist: Das Leben ist auch da auf Grenzen angewiesen, wo es sich in sozialen Systemen organisiert – in Partnerschaften, Familien, Unternehmen, Gemeinwesen. So wenig wie lebendige Organismen können auch diese Systeme für alles und jeden jederzeit offenstehen, weil nach Maßgabe ihrer jeweiligen qualitativen und quantitativen Zusammensetzung die Integrationskraft von Systemen begrenzt ist. Deshalb sind sie um ihres Fortbestehens willen darauf angewiesen, zuweilen dichtmachen zu können, um sich in sich selbst zu sammeln oder zu regenerieren.

Solches zu denken, fällt uns schwer. Zu tief haben sich in unser kollektives Bewusstsein die Schrecknisse von Krieg und Flucht geprägt, die uns auch jetzt erschaudern lassen, wenn wir das menschliche Leid an den Außengrenzen der Europäischen Union sehen. Und daran ist nichts falsch, denn so unerlässlich Grenzen für den inneren Systemzusammenhalt eines Gemeinwesens sind, so sehr ist auch geboten, sie durchlässig und transparent zu halten; und ihr Integrationsvermögen immer neu zu ermitteln. Auch das ist eine Grundlektion des Lebens: Sich abkapseln und alle Brücken abbrechen ist erst recht keine Lösung. Leben ist Stoffwechsel, ist Interaktion, ist Austausch. Leben atmet ein und aus, nimmt auf, gibt ab. Grenzen müssen so beschaffen sein, dass sie flexibel bleiben: abzuwehren und einzuladen – je nachdem, was Not tut.

Im Falle von Corona tut derzeit die Abwehr Not. Nur vorübergehend, wie wir alle hoffen. Ob nach außen oder nach innen: Längere Grenzschließungen der EU würden uns allen schaden. Als vorübergehende Schutzmaßnahme sind sie für die Resilienz der Union hingegen sinnvoll. Auch jetzt noch für Reisefreiheit und grenzenlosen Verkehr zu votieren hieße, eine – zugegebenermaßen sympathische – Idee über die Realitäten des physischen Lebens zu stellen. Das ist moralisch nachvollziehbar, aber nicht weise. Weisheit zeigt sich daran, dass sie das rechte Maß, die rechte Dosis an grenzüberschreitender Interaktion ermittelt. Diese Weisheit beherrschen alle Lebewesen instinktiv; sie auf unsere sozialen Systeme zu applizieren, fällt uns aber oft sehr schwer.

Viele Grenzen sind nun geschlossen. Gewiss wird sich das Virus nicht um sie scheren – seine Wirte aber sind gezwungen, das zu tun. Derzeit ist dies legitim, weil so die lebendigen Systeme unserer Gemeinwesen geschützt werden können. Deshalb sollten wir, auch innerhalb der EU, an Grenzen festhalten: Grenzen, die, so lange alles gut geht, offenstehen, die jedoch zur Not geschlossen werden können, wenn dies sowohl der Schutz der nationalen Subsysteme ebenso erfordert als auch der Schutz der transnationalen Union im Ganzen. Auch wenn die Metapher schief ist: Grenzen sind so ähnlich wie Notausgänge. Im normalen Leben nerven sie – doch wenn es brennt, ist man dankbar dafür, dass man sie benutzen kann.

 12. Der Multilateralismus ist alternativlos

Auch wenn es gut ist, der Corona-Krise innerhalb nationaler Strukturen zu begegnen, um so den Eigenheiten von Gesellschaften und Kulturen Rechnung zu tragen, ist es doch unerlässlich, dies in enger Abstimmung mit anderen zu tun. Nicht nur mit den unmittelbaren Nachbarn, sondern mit der Weltgemeinschaft im Ganzen. Denn erkennbar ist schon jetzt: Krisen wie die Covid-19-Pandemie kann man nicht im nationalen Alleingang lösen. Für sie braucht es den Wissenstransfer zwischen den Staaten. Diejenigen, die früher betroffen waren, können die Nachzügler warnen – die ihre Erfahrungen wiederum mit den noch gar nicht Betroffenen teilen sollten.

Um diesen Wissenstransfer zu koordinieren und zu organisieren, gibt es eine Weltgesundheitsorganisation (WHO). Deren Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus macht seit Wochen einen guten Job. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, verzichtet aber darauf, bestimmte Länder direkt anzugehen. Er klärt auf und koordiniert – und stellt damit eindrucksvoll unter Beweis, wie wichtig und hilfreich die zuletzt so vielfach gescholtenen – vor allem von den USA und manchen europäischen Populisten – Vereinten Nationen für das Miteinander auf Erden sind; gerade in Krisenzeiten. Für alle, die zuletzt glaubten –aus Kostengründen oder Machtkalkülen –, auf die UN und ihre Unterorganisationen verzichten zu können, hält Corona diese Lektion bereit: Ohne Multilateralismus geht es nicht. Zumindest so lange nicht, wie es auf Erden Kriege, Krisen, Katastrophen gibt – also für immer.

Dieses Plädoyer für die Unverzichtbarkeit multilateraler Organisationen und internationaler Zusammenarbeit soll natürlich nicht darüber hinwegsehen, dass auf diesem Feld so manches zu verbessern ist. Deshalb wäre es nicht die schlechteste Lehre aus Corona, ähnlich wie in den Jahren nach 1945 mit Verve daran zu arbeiten, die UN und andere multilaterale Organisationen einem gründlichen Relaunch zu unterziehen: als funktionsfähige und effiziente Gegengewichte zu den sich herauskristallisierenden um sich selbst kreisenden großen Nationalstaaten wie China, USA, Russland oder Brasilien. Selbst deren Potentaten kommen – wenn sie denn nicht ganz vernagelt sind – in Zeiten der Pandemie nicht länger an der Einsicht vorbei, dass es in ihrem eigenen Interesse keine Alternative zur internationalen Kooperation gibt. Allerdings muss zugestanden werden, dass die »XX-first«-Vernagelung inzwischen ein bedenkliches Ausmaß angenommen hat.