Freiheit vom Joch des Nutzens

Keine Epoche in der westlichen Welt hat mehr Freiheit geboten. Warum fühlen wir uns trotzdem von vielerlei Zwängen eingeengt und welche Rolle spielt dabei die Ökonomie?

Ein Interview mit mir in den Salzburger Nachrichten, Sa. 5. Oktober 2019 von Josef Bruckmoser, 

JB: Herr Quarch, auf welcher Grundlage steht unser Freiheitsverständnis?
Christoph Quarch: Das neuzeitliche Freiheitsverständnis basiert auf einer Voraussetzung, die in der antiken griechischen Philosophie noch gar nicht existierte: die Deutung des Menschen als eines autonomen Subjekts, das über einen freien Willen verfügt und durch seine Willensfreiheit die Verantwortung für sein eigenes Leben voll in die Hand nehmen kann. Diese Idee stammt ursprünglich aus dem römischen Recht und ist über Augustinus in die christliche Moral eingesickert.
Damit ist die Idee verbunden, dass Menschen autonome Subjekte sind, die auch Freiheitsrechte geltend machen können – vor allem gegenüber Instanzen, die der freien Ausübung ihres Willen zuwider stehen. Das hat im 18. Jahrhundert die Aufklärung vorangetrieben. Dabei haben sich zwei philosophische Richtungen durchgesetzt: der französische Weg spitzte den Freiheitsdiskurs auf die Politik und die politische Revolution zu; der englische Weg suchte die ökonomische Freiheit im Liberalismus und im freien Markt als Garanten für eine gerechte Gesellschaftsordnung. Das ist das Konzept von Freiheit, das heute in unser aller Köpfe steckt.

JB: Ist die westliche Gesellschaft heute die freieste, die es je gab?
Nach Maßgabe des politischen und des ökonomischen Freiheitsbegriffs ist sie das tatsächlich. Die Frage ist nur, ob sich menschliche Freiheit in politischer und ökonomischer Freiheit erschöpft. Diese Frage stellten schon die deutschen Intellektuellen am Ende des 18. Jahrhunderts, allen voran Goethe und Schiller. Aus Schillers „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1792-1794) stammt das Wort, dass „es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert“. Schiller stellte die kühne These auf, wir könnten mit der politischen und ökonomischen Freiheit nicht umgehen, wenn wir nicht eine geistige Freiheit erlangten. Diese entstehe genau da, wo wir uns selbst keine geistigen Zwänge auferlegen, wo wir frei sind von der Tyrannei und dem Joch des Nutzens, wo wir frei sind davon, dass wir bei allem, was wir tun und lassen, immer bestimmten Interessen dienstbar sein müssen – seien es politische, seien es ökonomische.

JB: Stoßen wird hier auf das Gefühl so vieler Menschen, dass sie trotz vermeintlicher politischer und ökonomischer Freiheit nicht frei sind?
Schiller sah bereits, wohin das Streben nach bloß politischer Freiheit führte, nämlich zum Heraufziehen einer politischen Diktatur: der napoleonischen Zeit. Und Goethe sah in England, dass dort bereits der Frühkapitalismus wütete und die Menschen versklavte. Schiller und Goethe meinten, das könne es ja nicht gewesen sein.
Das ist genau das, was heute wieder vielen Menschen aufstößt. Wir haben verlernt oder nie entdeckt, was geistige Freiheit ist. Geistige Freiheit wäre, uns auf eine Weise zur Welt zu verhalten, die in Schillers Sprache als „Spiel“ zu fassen ist. Ein Spieler ist strikt an die Spielregeln gebunden. Aber indem er die von ihnen gesetzten Regeln annimmt und bejaht, gewinnt er einen unendlichen Freiheitsraum von Möglichkeiten; gerade weil sein Spiel keinem externen Zweck unterworfen ist. Es genügt sich selbst. Das kommt dem antiken Denken nahe, das Freiheit als Zugehörigkeit zu einer Ordnung verstand, die aus freien Stücken bejaht wird. Hier halten sich Freiheit und Bindung die Waage.
Die andere Lebensform, in der geistige Freiheit verwirklicht ist, ist die Liebe. Der Liebende ist total gebunden an den Gegenstand seiner Liebe, aber er weiß sich in dieser Bindung vollkommen frei, weil er sie bejaht und einen Sinn darin sieht. Wirkliche Freiheit ist überall dort, wo wir Sinn erfahren. Solange wir nicht in diese spielerische und liebende Beziehung zur Welt kommen, nützen uns politische und ökonomische Freiheiten tatsächlich wenig.
Das politische und ökonomische Streben des Menschen hat aber den Sinn, die äußeren Bedingungen von Freiheit zu erweitern.

Das ist ja auch gut, sofern wir gleichzeitig die inneren erweitern. Wir sind z. B. in der Partnerwahl völlig frei, aber die Freiheit, die darin besteht, dass man die Beziehung zu einem Menschen vollkommen bejaht, erwächst ausschließlich aus der Liebe. Viele Menschen meinen frei zu sein, wenn sie dauernd von einem Partner zum anderen wechseln, dabei sind sie in Wahrheit geknechtet und getrieben von ihren Zwängen, Ansprüchen und Idealbildern, wie es denn sein müsste. Wer hingegen in der Liebe mit einer Partnerin oder einem Partner verbunden ist und dabei durchaus seine individuelle Freiheit einbüßt, ist wesentlich freier, weil er zu dieser Beziehung ja sagt.

JB: Braucht der Mensch nicht eine Idee, wohin es gehen soll?
Das glaube ich nicht. Der Mensch braucht einen klaren Blick dafür, dass alles, was er braucht, um ein gutes Leben zu führen, schon da ist. Und dass es nur darauf ankommt, damit in eine lebendige Beziehung zu treten. Darin liegt die Freiheit. Ich muss nur vor die Tür treten und mir den Wind um die Nase wehen lassen, um die Erfahrung der Sinnhaftigkeit der Welt zu machen.

JB: Die Ressourcen dafür sind aber höchst ungleich verteilt. Der eine kann sich den Wind auf seiner Yacht um die Nase wehen lassen, der andere im Plattenbau.
Gewisse materielle Grundbedürfnisse müssen befriedigt sein. Es ist aber eines der großen Verhängnisse der modernen Psychologie, den Menschen ausschließlich über seine Bedürfnisse zu definieren – anstatt zu fragen, worin die Fülle, die Erfüllung des Daseins liegt. Was das Menschsein gelingen lässt ist nicht, dass sich alle unsere Wünsche erfüllen und wir in allen Belangen unseren freien Willen bekommen. Es ist vielmehr – auf der Spur von Platon und Viktor E. Frankl – die Erfahrung von Sinn. Diese Erfahrung wird mit zuteil, sobald ich in einer funktionierenden Beziehung zu anderen Menschen bin. Die dafür erforderlichen Ressourcen sind jederzeit da.