Die Schule ist besser als ihr Ruf… Genug gejammert!

Alles kommt dar­auf an, die Bil­dung zum Mensch­sein wie­der in den Fokus zu nehmen
Auch in den letz­ten Bun­des­län­dern geht die Schu­le bald wie­der los. Und man darf gewiss sein, dass mit all den fri­schen I‑Dötzchen und all den neu­en Stun­den­plä­nen für die Fort­ge­schrit­ten – von den Lehr­plä­nen der Leh­rer ganz zu schwei­gen – auch die alte Lei­er wie­der los geht: die­ses alte Lei­er­kas­ten­lied von unse­ren ach so schlech­ten Schu­len, lang schon über­hol­ten päd­ago­gi­schen Kon­zep­ten und von ver­fehl­ter Bildungspolitik.
Leicht und popu­lär wäre es wohl, in die­sen Kat­zen­jam­mer ein­zu­stim­men; eben­so aber auch wohl­feil und den Vie­len nach dem Mund gere­det. Des­halb wol­len wir für heu­te der Ver­su­chung wider­ste­hen, in das Schul-Bas­hing so man­cher Phi­lo­so­phen oder Hirn­for­scher mit­ein­zu­stim­men und statt­des­sen unse­re Schu­len in ein ande­res Licht zu rücken: in ein nüch­ter­nes und wohl­wol­len­des Licht. Dabei soll es dar­um gehen, Miss­ver­ständ­nis­se zu kor­ri­gie­ren und vier The­sen vorzutragen.

  1. Bil­dung und Erzie­hung sind nicht allein Auf­ga­be der Schu­len, son­dern der gesam­ten Gesellschaft. 

In öffent­li­chen Debat­ten zum The­ma Schu­le lässt sich eine bedenk­li­che Ten­denz beob­ach­ten: der Trend zum Dele­gie­ren an die Pro­fis. Es geht im Kin­der­gar­ten los und setzt sich in der Schu­le fort: Bil­dung und Erzie­hung wer­den mehr und mehr zum Gegen­stand päd­ago­gi­scher Pro­fes­si­on, die sich betont wis­sen­schaft­lich gibt und Wert dar­auf legt, Erkennt­nis­se der Psy­cho­lo­gen, Phy­sio­lo­gen, Hirn­for­scher, Ver­hal­tens­for­scher, Sozio­lo­gen, The­ra­peu­ten und von wem nicht sonst noch alles in Kon­zep­te, Lehr­plä­ne und Bil­dungs­pro­gram­me zu imple­men­tie­ren. Auch die Eltern unter­wer­fen sich nicht sel­ten dem Dik­tat der Pro­gram­ma­ti­ker und mes­sen ihre eige­nen Erzie­hungs­an­stren­gun­gen dar­an, ob sie mit den Stan­dards der Pro­fes­sio­nel­len Schritt hal­ten kön­nen. Was soll dar­an aus­zu­set­zen sein?
Das Pro­blem besteht dar­in, dass die Erzie­hung jun­ger Men­schen weder nur den Eltern, noch allein den Pro­fis, noch allein den Pro­fis in Zusam­men­ar­beit mit den Eltern über­las­sen wer­den soll­te. Bil­dung und Erzie­hung sind die Auf­ga­be von allen, die sich der Gesell­schaft zuge­hö­rig füh­len; auch der Aus­bil­der und Arbeit­ge­ber, auch der Medi­en und Poli­ti­ker und vor allem auch der­je­ni­gen, die auf unse­re jun­gen Leu­te über digi­ta­le Medi­en Ein­fluss neh­men – und sich dabei über­haupt nicht ihrer Ver­ant­wor­tung bewusst sind, die sich dar­aus ergibt, dass sie gan­ze Gene­ra­tio­nen mit ihren Ange­bo­ten prä­gen, wenn nicht ver­der­ben. Aber statt das Augen­merk dar­auf zu len­ken, wel­chen Ein­fluss vir­tu­el­le Medi­en auf die Jugend­li­chen und die Kin­der neh­men, igno­riert man das Pro­blem geflis­sent­lich, um nur ja nicht in den Ruf zu kom­men, irgend­et­was gegen jene neue Pseu­do­re­li­gi­on ein­wen­den zu wol­len, die unter dem Namen „Digi­ta­li­sie­rung“ über uns her­ein­ge­bro­chen ist.
Die trau­ri­ge Wahr­heit ist: Erzie­hung und Bil­dung heißt heu­te vor allem, unse­re jun­gen Men­schen vor dem Inter­net beschüt­zen. Dafür braucht es aber etwas ande­res als nur päd­ago­gi­sche Kon­zep­te zur Medi­en­kom­pe­tenz. Die braucht es auch, aber noch mehr braucht es einen illu­si­ons­lo­sen Blick auf die Rea­li­tät und eine ideo­lo­gie- und beschwich­ti­gungs­freie, muti­ge und nicht pseu­do­re­li­gi­ös geführ­te Kam­pa­gne für den digi­ta­len Jugend­schutz, die sehr viel wei­ter­ge­hen muss als alles was bis­her unter die­ser Über­schrift fir­mier­te: Ver­bo­te (sie­he Frank­reich), Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men, Sucht­pro­phy­la­xe – um nur ein paar Stich­wor­te zu nen­nen. Das aber kann und darf man nicht an die Schu­len dele­gie­ren, man darf die Leh­rer mit die­ser Her­ku­les­auf­ga­be nicht allei­ne lassen.

  1. An unse­ren Schu­len wird – viel­leicht nicht immer, aber doch immer wie­der – gute Arbeit geleistet.

Was den Bil­dungs­stand und die Aus­bil­dungs­be­reit­schaft unse­rer Jugend­li­chen angeht, soll­te man also nicht pri­mär die Schu­len zur Rechen­schaft zie­hen, son­dern zunächst sich selbst. „Was hast du dafür getan, die jun­gen Leu­te aus der Digi­ta­li­sie­rungs­fal­le raus­zu­ho­len?“ Die­se Fra­ge muss sich jeder sel­ber stell­ten. Dann erst darf er sich den Schu­len und den Leh­rern zuwen­den. Was wird dabei in die Augen stechen?
Nicht, dass unse­re Schu­len Bull­shit sind; son­dern dass sich dort seit der eige­nen Schul­zeit über­ra­schend wenig geän­dert hat: Immer noch gibt es die Leh­rer, die nichts tau­gen und die kei­ner­lei Begeis­te­rung für ihre Arbeit ken­nen; immer noch gibt es die Leh­rer, die den Kin­dern wohl­ge­son­nen sind und einen guten Job ver­rich­ten. Ja, es gibt sogar noch jene Vir­tuo­sen, die das Poten­zi­al der jun­gen Men­schen sehen, för­dern und zuta­ge tre­ten las­sen. All das gibt es. Jeden Tag kann ich es an dem staat­li­chen Gym­na­si­um beob­ach­ten, zu dem unse­re bei­den Kin­der, sech­zehn und drei­zehn, gehen.
Am Ende hängt die Qua­li­tät des Unter­richts in kei­ner Wei­se von den Theo­rien und Kon­zep­ten der Pro­fi-Päd­ago­gen ab – son­dern aus­schließ­lich von der Art und Wei­se, wie ein Leh­rer oder eine Leh­re­rin mit den ihnen Anver­trau­ten umzu­ge­hen wis­sen. Selbst der lang­wei­ligs­te Stoff aus einem Fach, zu dem man sich nicht wirk­lich hin­ge­zo­gen fühlt (Latein zum Bei­spiel), kann den jun­gen Geist beflü­geln und ihm neue Wel­ten öff­nen. Die­ser Umstand ist so banal, wie er meis­tens igno­riert wird. Es sind nicht die über­kom­me­nen Metho­den oder ver­al­te­ten Lehr­plä­ne, es ist nicht das ana­lo­ge Equip­ment oder das sanie­rungs­be­dürf­ti­ge Gebäu­de, was dar­über ent­schei­det, ob sich Bil­dung zuträgt oder nicht – es ist die Begeis­te­rungs­fä­hig­keit der Leh­ren­den, deren Lei­den­schaft und Lie­be, deren Eigen­art und Per­sön­lich­keit. Immer nur auf mie­sen Leh­rern rum­zu­ha­cken macht nichts bes­ser. Bes­ser wer­den Schu­len in dem Maße, indem man den Leh­ren­den ver­traut, sie unter­stützt und sich nach Kräf­ten dar­um bemüht, dass die Kin­der nicht schon digi­tal ver­seucht sind, bevor der Unter­richt beginnt.

  1. Es kommt nicht so sehr dar­auf an, wie die Kin­der ler­nen, son­dern was die Kin­der lernen.

Beson­ders en vogue ist es, das Wie der Schul­bil­dung unter Beschuss zu neh­men: vom bule­mi­schen Ler­nen ist da die Rede (Ein­pau­ken und Aus­kot­zen), von unzeit­ge­mä­ßem Fron­tal­un­ter­richt und man­geln­der Betei­li­gung der Kin­der an der Aus­wahl der Unter­richts­fä­cher. Dem gegen­über wer­den Spon­ta­nei­tät und Krea­ti­vi­tät zu höchs­ten Wer­ten dekla­riert, wäh­rend Dis­zi­plin und Füh­rung in die Nähe von Kin­des­miss­brauch gerückt wer­den. Alles muss anders wer­den, beten die Intel­lek­tu­el­len in den Talk­shows und erge­hen sich in Lob­ge­sän­gen auf irgend­wel­che expe­ri­men­tel­len Mus­ter­schu­len, auf die sie selbst nicht ihre Kin­der schi­cken und auch nie­mals schi­cken wür­den, wenn sie denn sol­che (im schul­pflich­ti­gen) Alter hätten.
Es ist ver­füh­re­risch zu sein, sich auf Metho­den oder Tech­ni­ken der Bil­dungs­ar­beit zu fokus­sie­ren, denn es ent­las­tet davon, sich mit dem weit schwie­ri­ge­ren The­ma der Inhal­te zu befas­sen. Eine neue päd­ago­gi­sche Sau durchs Dorf zu trei­ben, ist leich­ter. Und päd­ago­gi­sche Men­schen­ver­su­che am leben­den Objekt haben in Deutsch­land, wie wir alle wis­sen, nicht nur eine lan­ge Tra­di­ti­on, son­dern sie ste­hen auch des­halb hoch im Kurs, weil die Ver­ur­sa­cher in den Schul­äm­tern und Minis­te­ri­en für die ver­hee­ren­den Fol­gen nie­mals belangt wer­den. „Nein, die Kon­zep­te waren rich­tig, nur die Schü­ler, Leh­rer oder Eltern nicht“ – so scheint die Devi­se dort zu lauten.
Die Wahr­heit ist: Lern­psy­cho­lo­gie, Neu­ro­phy­sio­lo­gie und all das ist „nice to have“ – aber wenn man sich vor lau­ter Metho­den­be­geis­te­rung und opti­mier­ter Lern­tech­no­lo­gie so gar nicht mehr fragt, wozu man Men­schen eigent­lich bil­den oder gar erzie­hen möch­te, wird nichts bes­ser wer­den. Die Crux fast aller öffent­li­chen Schul­de­bat­ten ist ganz ein­fach: Es fehlt an einer gesell­schaft­li­chen Visi­on oder Idee, wor­um es bei Erzie­hung oder Bil­dung eigent­lich geht. Oder anders gesagt: Es fehlt am Geist. Und weil es am Geist fehlt – nicht weil wir kei­ne guten Metho­den oder kein gutes Per­so­nal hät­ten – spu­cken unse­re Schu­len, Hoch­schu­len oder ande­ren Ein­rich­tun­gen immer neue Gene­ra­tio­nen von Ent­geis­ter­ten aus.

  1. Maß­geb­lich für den Stoff, der unter­rich­tet wer­den soll, dür­fen weder Markt noch Mode, son­dern kann immer nur der Mensch sein.

Das eigent­li­che Pro­blem mit Schu­le, Bil­dung und Erzie­hung lässt sich auf eine erschüt­ternd ein­fa­che For­mel brin­gen: Wir wis­sen nicht mehr, was der Sinn der gan­zen Übung ist – „Sinn“ ver­stan­den als das rich­tungs­wei­sen­de und wert­set­zen­de. „Erzie­hen“ wol­len wir eigent­lich gar nicht mehr, denn dafür müss­te man ja wis­sen, was und wohin es die jun­gen Leu­te zie­hen soll. Und die Bil­dung ist zur Aus­bil­dung ver­flacht, die letzt­lich immer dar­auf zielt, Men­schen so zu for­ma­tie­ren, dass sie mög­lichst pass­ge­nau eine bestimm­te Funk­ti­on im gro­ßen Räder­werk der öko­no­mi­schen Maschi­ne aus­üben kön­nen. Dass es bei Bil­dung und Erzie­hung aber um so etwas gehen könn­te wie Weg­wei­sung und Vor­be­rei­tung, Hin­füh­rung und Unter­wei­sung in der Kunst, ein Mensch zu sein, das kommt nie­man­dem mehr in den Sinn; was auch nicht ver­wun­dern muss, weil sich nie­mand mehr Gedan­ken dar­über macht, was Mensch­sein aus­zeich­net und was es von ent­leib­ter (künst­li­cher) Intel­li­genz, tech­ni­scher Funk­tio­na­li­tät und opti­mier­tem Kon­su­men­ten-Dasein unterscheidet.
Da folgt man lie­ber den Impe­ra­ti­ven der Öko­no­mie und trägt Sor­ge dafür, dass mög­lichst effi­zi­ent mög­lichst wert­schöp­fen­de Ver­brau­cher, Nut­zer und Pro­du­zen­ten aus den Schu­len ent­las­sen wer­den, deren ein­zi­ge Auf­ga­be nur noch dar­in besteht, die gro­ße Maschi­ne am Lau­fen zu hal­ten. Bil­dung zum Mensch­sein, Aus­bil­dung von Per­sön­lich­keit – das kommt nicht mehr vor. Weit haben wir uns im Lan­de der Dich­ter und Den­ker von Wil­helm von Hum­boldt ent­fernt, der die Auf­ga­be der Bil­dung in der „Ver­knüp­fung unse­res Ich mit der Welt zu der all­ge­meins­ten, reges­ten und frei­es­ten Wech­sel­wir­kung“ erkannte.
Was es dafür braucht? Mensch­heits­re­le­van­tes Wis­sen und die dia­lo­gi­sche Kom­pe­tenz, sich von der Welt etwas sagen zu las­sen. Das aber heißt: nicht das Ler­nen blo­ßer Fak­ten for­dern, son­dern das ver­ste­hen­de und fra­gen­de Den­ken för­dern; nicht an den Fächern spa­ren, die dem mensch­li­chen Ver­mö­gen der Mit­tei­lung gewid­met sind, wie Musik, Kunst, Sport; auf den inzwi­schen ohne­hin nur noch als lie­bens­wer­ten Ana­chro­nis­mus akzep­ta­blen Reli­gi­ons­un­ter­richt ver­zich­ten (wenigs­tens ab der 8. Klas­se) und statt­des­sen Phi­lo­so­phie zum fes­ten Unter­richts­fach machen. Und allen Fokus dar­auf legen, dass die jun­gen Leu­te sprach­fä­hig blei­ben und sich nicht vom digi­ta­len Blub­bern zum Ver­stum­men brin­gen las­sen. Es gibt wahr­lich viel zu tun im neu­en Schul­jahr. Auf geht’s.
(Chris­toph Quarch, August 2018)