Das Flüchtlingsdrama lehrt, dass wir uns in Europa unserer gemeinsamen Tugenden besinnen und für eine politische Union werben müssen
Erst im Umgang mit den Griechen, jetzt im Umgang mit den Flüchtlingen: Zweimal in nur einem Sommer, verrät Europa seine Werte: Und das im doppelten Wortsinn: die Werte, die man in Sonntagsreden gern im Munde führt, werden verleugnet – während zugleich die oft vertuschten, tatsächlichen Werte an die Oberfläche drängen. Denn zweimal in nur einem Sommer zeigt sich, wem man in Europas Metropolen wirklich huldigt: dem Markt, der Macht, dem Eigennutz.
Was sich dabei verrät, verheißt nichts Gutes: Europa ist noch Lichtjahre davon entfernt, eine politische Gemeinschaft zu sein. Europa ist im besten Fall ein gemeinsamer Markt, der gemeinsamen Wohlstand leidlich gut verteilt. Es ist schlimmstenfalls ein Markt, auf dem man nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist. Der Sommer 2015 verrät: Der schlimmste Fall ist eingetreten.
Die Schuldenkrise Griechenlands gab deutlich zu erkennen: Die Mehrheit der Regierungen der Mitgliedsstaaten
der EU hat keine Vorstellung und keine Vision davon, was eine politische Union Europas sein könnte. Man folgt Wolfgang Schäuble, der wohl einen europäischen Rechtsraum schätzt, um solcherart den europäischen Markt lenken zu können, dem aber jede Vision einer gesamteuropäischen politischen Willensbildung zuwider scheint. Wer seiner Linie folgt, fürchtet – gewiss nicht ohne Grund – die Mannigfaltigkeit der europäischen Kulturen, religiösen Traditionen, Weltanschauungen, ethnischen Prägungen und Ethiken und setzt als einheitsstiftendes Fundament allein auf Markt und Recht. Der Preis, den man dafür zu zahlen hat, ist hoch: der weitgehende Verzicht auf eine gemeinsame, von den EU-Bürgern geteilte und einklagbare Wertordnung. Indem es dieser Linie folgt, tut Europa, was viele seine Bürger tun und was in einer Zeit des ungebremsten Ökonomismus naheliegt: Es ersetzt menschliche Werte durch Marktwerte.
Das geht solange gut, wie schönes Wetter ist. Geld lässt sich in Europa leidlich gut verteilen. Viel besser jedenfalls als Menschen, wie sich angesichts der Flüchtlingsströme zeigt. Zumindest dann, wenn diesem Kontinent die Wertebasis fehlt: Wenn man zwar gern zur Stelle ist, wo es Gelder zu verteilen gibt, sich aber davon stiehlt, wenn es Menschen zu verteilen heißt. Da rächt sich, dass man es im Hurra einst versäumte, der Markt- und Rechtsunion die Werteunion folgen zu lassen. Da rächt sich, dass man das Politische gegen das Ökonomische hintan stellte: wie gerade noch in Griechenland, das man für sein Gesuch verdammte, sich um der Not des eigenen Volkes willen dem Diktat der Troika zu entziehen; wo man die Tugend der Solidarität mit einem in die Krise torpedierten Land die Besserwisserei von Markt und Recht entgegensetze – und deshalb diese gerade noch gering geschätzte Tugend nun auch nicht der gänzlich solidaritätsfernen Regierung Ungarn glaubhaft gegenüber einfordern kann.
Wenn der doppelte Verrat dieses Sommers eine Lehre zulässt, die über den Tag hinausweist, dann kann es nur diese sein: Europa wird scheitern, wenn es nicht damit beginnt, sich einzugestehen, dass es ein tragfähiges ethisches Fundament braucht, nach dessen Maßgabe entschieden werden kann, wer seiner politischen Gemeinschaft zugehören kann. Europa braucht ein Wertefundament, das keinen Zweifel daran lässt, was in Krisenzeiten zu tun ist: etwa Flüchtlinge gerecht verteilen oder eine Regierung selbst dann unterstützen, wenn ihr die Linderung der Not ihrer Bevölkerung wichtiger ist als Verträge und Bankendiktate.
Das Wertefundament Europas muss nicht neu erfunden werden. Jedoch muss es zu Bewusstsein gebracht werden. Vielleicht braucht es dafür neue Institutionen, vielleicht braucht es dafür einen breit angelegten Diskurs der Bürger. Vielleicht braucht es dafür eine Besinnung auf die Wurzeln der Europäischen Kultur, deren tiefste und stärkste nach Griechenland reichen, wo man einst wusste: „Das Beste ist das Maß“. Daneben braucht es ohne Frage Bildung. Wie wäre es, wenn alle jungen Europäerinnen und Europäer dazu verpflichtet würden, den Grundwerten Europas in einem anderen EU-Land neun Monate lang der Gemeinschaft zu dienen und sich so ein europäischen Wert- und Tugendbewusstsein einzuverleiben. So ließe sich europaweit ein gemeinsamer Sinn für soziale, ökologische und menschliche Werte etablieren, der Schandflecken wie Stacheldrahtzäune an europäischen Grenzen unmöglich machen würde.
Zweimal hat Europa in diesem Sommer seine Werte verraten. Ein dritter Verrat könnte das Ende sein. Wir müssen über Werte diskutieren! Wir müssen uns der einfachen Werte und Tugenden besinnen, die von denen benannt und gelebt wurden, denen wir all das Gute verdanken, das unseren Kontinent auszeichnet und in den Augen so vieler zum Paradies verklärt: die große Idee der individuellen Freiheit in einem solidarischen und gerechten Gemeinwesen; die große Idee der Harmonie mit der Natur, die einst in Griechenland geboren wurde; die große Idee der caritativen Liebe, die wir dem Christentum verdanken.
Würde wir diese Werte achten, wir müssten in Europa nicht um Flüchtlingsquoten oder Rettungspakete feilschen. Wir könnten beherzt zupacken, denn wir wüssten, was wir wollen. Europas Krankheit aber ist, dass es zur Zeit nicht selber will, sondern allein gewollt wird: gewollt von jenen, die den Markt beherrschen. So aber wird Europa straucheln. Wer das nicht will, der sollte dafür streiten, dass sich Europa nicht noch einmal verrät – der sollte die Krisen der Gegenwart zu Anlass nehmen, endlich, endlich für eine Werteunion Europa zu kämpfen, die sich den Markt um ihrer Menschen willen unterwirft.
Christoph Quarch, Fulda 18.9.2015