Brexit – es ist eine Schande, ein Menetekel und eine Chance, eine Tragödie und eine Farce. Aber der Reihe nach. Denn so oder so gibt das Ergebnis der Volksabstimmung im Vereinigten Königreich zu denken.
Brexit ist eine Schande, weil er ein Symptom ist: ein weiteres Symptom für eine dramatische Fehlentwicklung der Europäischen Union, die bereits in der Griechenland-Krise offen zutage trat und nun unübersehbar geworden ist. Diese Fehlentwicklung lässt sich auf eine einfache Formel bringen: Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs in Europa und der überhasteten Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten in die EU ist Europa beinahe ausschließlich als Marktplatz formatiert worden: als gemeinsamer Wirtschaftsraum, für den notdürftig eine einigermaßen belastbar gemeinsame Rechtsordnung gezimmert wurde. Was darüber vollständig aus dem Blick geriet ist, was in den 1980er Jahren noch vehement von europäischen Staatsmännern wie Jacques Delors gefordert wurde: Europa eine Seele zu geben; Europa als gemeinsamen Kulturraum zu profilieren, getragen von einem gemeinsamen europäischen Ethos, das mehr, viel mehr, sehr viel mehr ist als das Pseudoethos des Marktes.
Wir haben es versäumt, ein europäisches Bürgerbewusstsein zu entwickeln. Stattdessen haben wir gedealt. Und wie es bei Deals zu gehen pflegt: So lange die Geschäfte gut laufen, halten die Geschäftspartner zusammen. Wird die Luft dünn, geht man auseinander. Genau das ist in Europa geschehen. Wäre Europa mehr als ein Markt, wäre das nicht passiert.
Der Brexit ist ein Menetekel, weil er eines prophezeit: Wenn sich die Europäische Union weiterhin als ein Zweckbündnis im Dienste nationaler ökonomischer Interessen versteht, wird das Jahrhundertprojekt EU scheitern. Daran sollte niemand mehr zweifeln. Die gravierenden Fehler der Griechenlandkrise –vor allem verursacht von der Bundesregierung– dürfen sich nicht wiederholen: Damals entschieden sich Frau Merkel und Herr Schäuble dafür, ökonomische Interessen (allem voran diejenigen deutscher Kreditinstitute) höher zu gewichten als die Solidarität mit einem ins Straucheln geratenen europäischen Partner. Der moralische Zusammenhalt Europas wurde auf dem Altar des Ökonomismus geopfert. Das wirtschaftliche Kalkül obsiegte über die ethischen Werte. Wenn das so weitergeht, werden in Krisenzeiten die zentrifugalen Kräfte weiter zunehmen – einfach, weil es an einem starken Gravitationszentrum fehlt, das das Planetensysteme Europa zusammenhalten könnte: an einer zentralen Sonne, um die Europa kreisen kann und deren Licht den europäischen Geist erleuchtet. Nur ein gemeinsames Ethos, nur ein europäischer Gemeinsinn, nur ein europäisches Bürgerbewusstsein vermag ein solches Zentralgestirn zu sein.
Und da liegt die Chance des Brexit: Er kann, er muss die Verantwortlichen in Europa dazu bewegen, verstärkte Anstrengungen zu unternehmen, um das Bewusstsein für die kulturelle und moralische Zusammengehörigkeit in Europa neuerlich zu stärken. Europa braucht eine Besinnung auf seine ethischen Fundamente, auf seine gemeinsame Kultur, auf seine gemeinsamen Wurzeln. Die Europäische Union sollte so schnell wie möglich ihre Kräfte darauf sammeln, grenzüberschreitende Austauschprogramme zu forcieren, einen europäischen Bürgerdienst zu etablieren, europaweite Bildungsprogramme für einen europäischen Gemeinsinn zu lancieren.
Das ist die Chance Europas nach dem Brexit: endlich der Fokussierung auf Ökonomie und Kommerz abzuschwören und sich neuerlich als ein Kulturraum zu erfinden, der nicht dafür geschaffen ist, dass immer weniger Menschen immer mehr Geld verdienen und immer mehr europäische Unternehmen nach China verkauft werden, sondern dessen Sinn darin liegt, ein Ort der Menschlichkeit zu sein: ein Raum kultureller Wertschöpfung, ein Kulturraum. So wie es Europa zu seinen besten Zeiten war und wieder sein kann. Gesetzt, wir begreifen wieder, wer wir sind: die Erben einer Kultur, die einst mit der Maxime antrat, das Beste sei das Maß und der Sinn des Lebens sei die Schönheit wahrer Menschlichkeit. Diesem Ideal zu dienen, ist die Mission Europas. Möge der Brexit den Kontinent ihrer Verwirklichung näher bringen.