Ach, Europa!

Ob Ter­ror, Migra­ti­on oder Ero­si­on der EU: Das ein­zi­ge, was uns noch ret­ten kann, sind Kul­tur, Bil­dung und die Renais­sance der Tugend
Euro­pa. Folgt man dem Mythos, war sie eine Königs­toch­ter. Was ist aus ihr gewor­den? Den einen ist sie das gelob­te Land. Sie jubeln, wenn sie dem Meer ent­ron­nen sind und die Gesta­de von Les­bos oder Kos errei­chen. Den ande­ren ist sie Inbe­griff des Bösen. Sie bom­ben und sie töten in Euro­pas Städ­ten, wen und wo sie kön­nen. Und wie­der ande­ren ist sie egal. Vor allem denen, die tag­ein tag­aus sich ihrer Seg­nun­gen erfreu­en. Die Polen etwa steh­len sich davon, die Deut­schen wäh­len AFD. Armes Euro­pa, was hast du ver­bro­chen… – Es ist Passionszeit.
Die Königs­toch­ter trägt noch immer eine Kro­ne. In ihr fun­keln Juwe­len, die denen einen einem Leucht­turm glei­chen, die für die ande­ren hin­ge­gen längst ver­blasst sind. Was sind die­se Juwe­len? Sie sind das, was man gern Euro­pas Wer­te nennt. Ihrer gedenkt man immer dann, wenn Dun­kel­heit sich auf Euro­pa legt. Zum Bei­spiel nach den jüngs­ten Anschlä­gen von Brüs­sel. Da wird man Zeu­ge, wie die Bun­des­kanz­le­rin mit aus­drucks­lo­sen Zügen fest­stellt, der Angriff jener Dschi­ha­dis­ten habe den Wer­ten Euro­pas gegol­ten. Hm. Galt er nicht viel­mehr den Men­schen Euro­pas? Ja galt er nicht womög­lich gar der Mensch­heit und der Mensch­lich­keit im Ganzen?
Die Rede von den Wer­ten ist ver­fäng­lich. Gewiss, die Rich­tung, die sie anzeigt, ist die rich­ti­ge. Die Dschi­ha­dis­ten bekrie­gen durch­aus das, was man „die Wer­te“ des Wes­tens nen­nen kann. Und eben­so hat der Andrang der Flücht­lin­ge gilt nicht zuletzt dem, was Wer­te des Wes­tens heißt. Ja, auch die zen­tri­fu­ga­len Kräf­te inner­halb der Euro­päi­schen Uni­on las­sen sich als Ero­si­on der Wer­te des Wes­tens beschrei­ben. Ganz so wie man den Flücht­lings­deal mit der Tür­kei als einen Ver­rat an den Wer­ten des Wes­ten ver­ur­tei­len darf. Aber unbe­frie­di­gend bei alle­dem ist doch, dass nie­mand so recht sagen kann – zumin­dest scheint es so –, wie denn die Wer­te des Wes­tens eigent­lich hei­ßen; wel­che Juwe­len es denn sind, die Euro­pas Kro­ne zieren.
Solan­ge von den Wer­ten nur abs­trakt gere­det wird, ist jene Rede wert­los. Dann näm­lich ist man schnell dabei, die Wer­te, die man ges­tern noch für sich in Anspruch nahm (Schutz von Asyl­su­chen­den) auf einem tür­ki­schen Basar gegen ein biss­chen „Sicher­heit“ zu ver­scha­chern. Dann pak­tiert man auch schon mal mit einem Staat, der sei­ner eige­nen Bevöl­ke­rung einen blu­ti­gen Bür­ger­krieg auf­zwingt, weil man es hin­nimmt, dass sich ein Teil der Mit­glieds­staa­ten der EU von jenem schö­nen Wer­ten der Soli­da­ri­tät aus Angst und Ego­is­mus abge­wandt hat. Und also wer­den gegen­wär­tig die Wer­te des Wes­tens nicht nur von Isla­mis­ten ange­grif­fen, son­dern zu allem Über­fluss auch noch von den Euro­pä­ern selbst ver­ra­ten. Noch ein­mal: Armes Euro­pa! Wir wei­nen um dich.
Wer­te sind nur so viel wert, wie die­je­ni­gen auf Spiel zu set­zen bereit sind, die sie für sich in Anspruch neh­men. Die­se Erkennt­nis ist nicht neu. Schon Fried­rich Nietz­sche hat das klar gese­hen. Und was er eben­falls erkann­te: Wer­te sind häu­fig Instru­men­te, derer sich bedient, wer Macht aus­üben möch­te. Als Wert erscheint dann gera­de das, was einem in den Kram passt und sich in den Dienst der eig­nen Zie­le neh­men lässt. Ent­spre­chend büßt etwas den Wert, den es noch ges­tern hat­te, ein, wenn heu­te ande­re Inter­es­sen domi­nie­ren. Was Nietz­sche damit sag­ten woll­te: Wer­te sind das Pro­dukt der Wert­set­zun­gen und der Wert­schät­zun­gen derer, die sie zu ihren Wer­te dekla­rie­ren. Nicht mehr und nicht weniger.
Des­halb geht es in Euro­pa heu­te um viel mehr als nur um Wer­te. Von Wer­ten reden ist zu wenig. Es geht um das kon­kre­te Leben. Es geht um eine Lebens­form, von der wir in Euro­pa glau­ben, dass sie gut ist; ja, dass sie wahr ist. Nicht weil sie unse­ren Nei­gun­gen und Wün­schen dien­lich ist, son­dern weil es dem Wesen des Men­schen ent­spricht, bestimm­te Tugen­den aus­zu­bil­den und durch die Fol­ge der Gene­ra­tio­nen wei­ter­zu­ge­ben. Wir soll­ten nicht ver­ges­sen, dass es in Euro­pa Men­schen gab und gibt, die sich nicht scheu­ten, gute Grün­de dafür zu ermit­teln, war­um es eines Men­schen wür­dig ist und war­um es dafür zu kämp­fen lohnt, das pri­va­te und öffent­li­che Leben nach Maß­ga­be die­ser Tugen­den zu gestal­ten: ande­re unge­ach­tet ihrer „Ras­se, Haut­far­be, Geschlecht, Spra­che, Reli­gi­on, poli­ti­scher oder sons­ti­ger Anschau­ung, natio­na­ler oder sozia­ler Her­kunft, Ver­mö­gen, Geburt“ anzu­er­ken­nen (UN-Char­ta, Art. 2); ande­ren Asyl zu gewäh­ren (Art 14.1), die Aus­übung ihrer Reli­gi­on zu erlau­ben (Art. 18), Gerech­tig­keit und sozia­le Sicher­heit zu schaf­fen (Art. 22), die Teil­nah­me am kul­tu­rel­len Leben zu ermög­li­chen (Art. 28). Um nur ein paar der Tugen­den zu nen­nen, die in Euro­pa gepre­digt, ver­ra­ten und end­lich zur Gel­tung gebracht wurden.
Wenn Euro­pa eine Zukunft haben soll, dann müs­sen wir – und damit ist nun jede Bür­ge­rin und jeder Bür­ger ange­spro­chen – nach Kräf­ten jene Tugen­den Euro­pas leben und ver­tei­di­gen. Wir dür­fen nicht müde wer­den, sie im Bewusst­sein zu hal­ten. Vor allem dür­fen wir nicht müde wer­den, sie zur prak­ti­zie­ren und unse­ren Kin­dern wei­ter­zu­ge­ben. Wir dür­fen nicht müde wer­den, sie über unse­re Medi­en zu ver­mit­teln und ihre Schön­heit durch unse­re Kunst zu fei­ern. Wir dür­fen nicht müde wer­den, sie durch unse­re Umgangs­for­men zu ver­in­ner­li­chen. Das Dra­ma aber ist: Wir sind all des­sen müde. Wir sind erschöpft und weich­ge­spült von einer aller Tugend, ja auch allen Wer­ten abge­wand­ten, seich­ten Unter­hal­tungs­in­dus­trie, die nur den unse­li­gen Pseu­do­göt­tern namens Quo­te und Pro­fit zu hul­di­gen gewohnt ist.
Kein Mensch kann sich vor Ter­ro­ris­mus schüt­zen. Kein Zaun wir hoch genug, kein Meer so tief sein, dass Flücht­lin­ge nicht ihren Weg nach Euro­pa fin­den wer­den. Der Druck wird wei­ter zuneh­men. Wir wer­den ihm nicht stand­hal­ten, wenn wir es nicht zuwe­ge brin­gen, das, was sonn­tags und nach Ter­ror­an­schlä­gen als „Wer­te Euro­pas“ im Mun­de geführt wird, in jeder Stun­de unse­res Lebens in und an die Hand zu neh­men: Soli­da­ri­tät und Mensch­lich­keit im All­tag leben; ande­re nicht bei jeder Gele­gen­heit her­un­ter­put­zen, son­dern ihnen ein Lächeln schen­ken; ihnen in die Augen schau­en, sich für das Gemein­wohl inter­es­sie­ren. Es ist doch nicht so schwer, in Got­tes Namen. Das haben ande­re vor uns auch schon hinbekommen.
Vor allem müs­sen wir uns dar­über ver­stän­di­gen, für wel­che Wer­te wir denn wirk­lich etwas – viel­leicht sogar Leib und Leben – aufs Spiel zu set­zen bereit sind: Reich­tum und Unter­hal­tung? Kon­sum­frei­heit und Sonn­tags­shop­ping? Das wohl eher nicht. Wenn das alles wäre, dann wären wir schon jetzt ver­lo­ren. Nein, es sind doch wohl die Wer­te, die oben genannt wur­den: Wer­te, die jene Tugen­den zur Spra­che brin­gen, in denen wah­re, wesent­li­che Mensch­lich­keit leben­dig wird. Wer­te, die dem Rech­nung tra­gen, wer wir sind: Wesen der Ver­bun­den­heit und Frei­heit – Wesen, die sich nur im Mit­ein­an­der mit den ande­ren ent­fal­ten kön­nen und die ihr Bes­tes dann ent­wi­ckeln, wenn sie im Zusam­men­spiel mit ande­ren agie­ren kön­nen. Sich des­sen zu besin­nen und sich dar­an aus­zu­rich­ten, poli­tisch und indi­vi­du­ell, öko­no­misch und gesell­schaft­lich: Das ist es, was Euro­pa braucht. Das ist es, was ihr könig­li­ches Wesen neu erglän­zen lässt.
Wir brau­chen eine Renais­sance des guten Geis­tes, der in Euro­pa über die Jahr­hun­der­te zum Vor­schein kam. Die ein­zi­gen aus­sichts­rei­chen Ant­wor­ten auf die drei größ­ten Her­aus­for­de­run­gen der Gegen­wart – Ter­ror, Migra­ti­on und Soli­da­ri­täts­er­o­si­on in Euro­pa – sind Bil­dung, Kul­tur und Geist. Wir müs­sen, wie Jaques Delors einst for­mu­lier­te, Euro­pa eine See­le geben. Und das geht nur, indem wir es zurück­bin­den an die fun­da­men­ta­len Wahr­hei­ten, die hier über das Mensch­sein ent­deckt, erprobt und kul­ti­viert wur­den. Immer mehr Sicher­heits­diens­te und Waf­fen wer­den uns nicht stark machen. Euro­pas Kraft und Schön­heit lie­gen in ihrer Akzep­tanz der Viel­falt und in ihrer Men­schen­freund­lich­keit. Dass sie wie­der erstrah­len kön­nen, ist die Auf­ga­be vor der ein jeder Euro­pä­er, eine jede Euro­päe­rin, in die­ser Stun­de steht. Auf die Pas­si­ons­zeit folgt – dann hof­fent­lich – die Auferstehung.
Chris­toph Quarch