Νοῦς – Sinn, Geist, Vernunft

Wie es uns gelingt, die Welt zu verstehen

Odo Mar­quard, ein für sei­nen Sprach­witz bekann­ter Den­ker des 20. Jahr­hun­derts, präg­te ein­mal das Bon­mot, Phi­lo­so­phen sei­en Nuskna­cker – was weni­ger eine Hom­mage an Tschai­kow­sky Bal­lett sein soll­te, son­dern ein geist­rei­ches Spiel mit dem grie­chi­schen Wort nous, das in den Über­set­zun­gen zumeist mit Geist oder Ver­nunft wie­der­ge­ge­ben wird und bei dem es sich folg­lich um ein Schüs­sel­wort des anti­ken Den­kens han­delt. Geist­reich wie Mar­quard nun ein­mal war, woll­te er mit sei­nem Wort­spiel dar­auf hin­wei­sen, dass das Wort nous mehr zu sagen hat, als sei­ne land­läu­fi­gen Über­set­zun­gen ver­mu­ten las­sen; und dass es folg­lich eine har­te Nuss ist, die zu kna­cken, eines Phi­lo­so­phen wür­dig scheint.

Und tat­säch­lich: Die Ver­wen­dung des Wor­tes nous ist bei den ers­ten Den­kern der Hel­le­nen alles ande­re als ein­deu­tig. Bei Homer erscheint der nous als ein Organ der Wahr­neh­mung – und zwar der unmit­tel­ba­ren Wahr­neh­mung des­sen, was ver­ständ­lich ist. Ganz ähn­lich kennt auch Pla­ton (428–348 v.Chr.) den nous als das­je­ni­ge Ver­mö­gen, kraft des­sen der Mensch gewahrt, was in sei­ner Spra­che „Idee“ heißt und so etwas wie den Sinn der Phä­no­me­ne bezeich­net. Der nous ist für Pla­ton folg­lich so etwas wie der Sinn für den Sinn, also das eigen­tüm­li­che Organ des Sinn­ver­ste­hens, das genau wie die Sin­nes­or­ga­ne die Phä­no­me­ne die­ser Welt gewahrt, sich dabei aber nicht auf die sicht­ba­re, hör­ba­re, riech­ba­re, schmeck­ba­re oder tast­ba­re Erschei­nung fokus­siert, son­dern die­se gleich­sam trans­pa­rent wer­den lässt für den allei­ne dem Ver­ste­hen zugäng­li­chen Sinn.

Sei­ne Nähe zur Sin­nes­wahr­neh­mung ist der Schlüs­sel zum Ver­ständ­nis des nous. Nous ist eben nicht das Den­ken, nicht die Kogni­ti­on, vor allem kein Instru­ment logi­scher oder kal­ku­lie­ren­der Pro­ze­du­ren. Nous ist nichts, was algo­rith­misch simu­liert oder in Künst­li­che Intel­li­genz über­setzt wer­den könn­te. Das ver­rät die Her­kunft die­ses wun­der­ba­ren Wor­tes. Es lei­tet sich her von der uralten indo­eu­ro­päi­schen Wort­wur­zel snū, die auch in unse­ren Wor­ten schnüf­feln, schnie­fen, schnup­fen, schnup­pern oder Nase steckt. Nous ist so gese­hen gar nichts ande­res als der gute Rie­cher, das nach­ge­ra­de gedan­ken­freie Erschlie­ßen des­sen, was etwas ist; so wie der Urmensch einen guten Rie­cher haben muss­te, um zuver­läs­sig ermit­teln zu kön­nen, ob das von ihm gepflück­te Kraut ein Heil­mit­tel oder ein Gift ist.

Nous ist also tat­säch­lich ein Sinn für den Sinn und in die­sem Sin­ne ein Organ des Ver­neh­mens – der Ver­nunft. Aber eben nicht im Sin­ne eines Imma­nu­el Kant (1724–1804), für den die Ver­nunft eine Art men­ta­ler Pro­zes­sor war, son­dern eher im Sin­ne des alten Hera­klit (545–475 v.Chr), der sei­nen Lesern zuraun­te: „Viel­wis­se­rei führt nicht zum nous“, weil der nous nicht in Gelehr­ten­köp­fen zuhau­se ist, son­dern wo der Mensch sich acht­sam und ver­stän­dig den Phä­no­me­nen der Welt zuneigt – wo er sich dafür offen­hält, den Sinn an ihnen zu erschnup­pern. So gese­hen ist es auch kein Wun­der, dass die Grie­chen den nous sowohl im Inne­ren als auch im Äuße­ren ver­or­te­ten: Etwas hat nous, wenn es ver­ständ­lich ist; und die­ser nous, der sich ver­ste­hen lässt, gibt sich dem nous in uns zu erken­nen. Objek­ti­ver Sinn, der von sub­jek­ti­vem Sinn erfasst wird, Geist, den wir mit unse­rem Geist erschlie­ßen – nicht berech­nend, deduk­tiv, ana­ly­tisch oder durch logi­sche Argu­men­te auf­weis­bar, son­dern spon­tan, momen­tan und augen­blick­lich: ein Licht, das uns auf­geht. Aber auch ein Licht, das die­se Welt durch­leuch­tet. Das jeden­falls mein­te der Phi­lo­soph Ana­xa­goras (499–428 v.Chr.), der als ers­ter die Mei­nung vor­brach­te, der Kos­mos ver­dan­ke sei­ne Ord­nung einem in ihm mäch­ti­gen nous – der dann zumeist mit „Geist“ über­setzt wird; ganz so, als habe Ana­xa­goras mit sei­nem nous den jüdisch-christ­li­chen Schöp­fer­geist anti­zi­piert. In Wahr­heit dach­te er aller­dings eher an so etwas wie eine nicht per­so­na­le Intel­li­genz, die das kos­mi­sche Gesche­hen ord­net und aus­ba­lan­ciert – so dass es den Men­schen sinn­voll, bejah­bar und geist­reich erscheint. Am Ende ist der nous also auch hier das­je­ni­ge, was den Sinn gewahr­bar macht: Garant einer Wahr­heit, die umfas­sen­der ist als alles, was uns die Sin­nes­wahr­neh­mung erschließt, Garant eines Sinns, der uns Men­schen hei­misch sein lässt in der Welt. Dass es die­se Dimen­si­on des Sinns in allem Sein gibt, ist und bleibt ein unauf­lös­li­ches Geheim­nis – eine har­te Nuss, an der sich schon man­cher Nuskna­cker ver­geb­lich abmüh­te. Und das ist auch gut so. Denn wie sinn­voll wäre schon ein Sinn, den wir berech­nen und erklä­ren könnten?

Θhink Greek! Denn, das Ältes­te ist zuwei­len das Frischste.

Herz­lich, Christoph

(ver­öf­fent­licht in der Zeit­schrift „Aben­teu­er Phi­lo­so­phie”)