Wurzeln im heiligen Sein dieser Welt

Von der Notwendigkeit einer neuen Religion

„Ich den­ke eine neue Reli­gi­on zu stif­ten.“ (Fried­rich Schlegel)

In sei­nem skan­dal­um­wit­ter­ten Roman Lady Chatterley’s Lover lässt der bri­ti­sche Roman­cier D.H. Law­rence sei­nen Prot­ago­nis­ten Oli­ver Mell­ors sagen: „Vital­ly, the human race is dying. It is like a gre­at uproo­ted tree, with its roots in the air. We must plant our­sel­ves again in the uni­ver­se.“ Die­ser Satz beschreibt in einem star­ken Bild den Zustand unse­rer Welt. Wir leben in der Zeit des Kli­ma­wan­dels. Luft und Mee­re sind von Men­schen­hand ver­gif­tet. Fal­sches Den­ken hat uns von der leben­den Natur ent­frem­det. Wie Micha­el Jack­son im berühm­ten Earth­song-Video wan­deln wir auf einer geschun­de­nen Erde. Ver­brann­te Baum­stümp­fe wohin das Auge blickt.
Die zer­stör­ten Wäl­der hal­ten uns den Spie­gel vor. Baum­stümp­fe und frei­ge­leg­te Wur­zeln zei­gen uns die Wahr­heit unse­res Inners­ten. Wir haben Wäl­der und Natur gero­det, um die Erde uns zu unter­wer­fen. Wir haben eine Lich­tung in die Wild­nis ein­ge­brannt, um mit Wis­sen­schaft und Tech­nik alles zu beherr­schen und zu kon­trol­lie­ren. Wir haben die Lich­tung immer wei­ter aus­ge­dehnt und die Wäl­der immer wei­ter an den Rand gedrängt. Heu­te, in der Zeit der Digi­ta­li­sie­rung und der Künst­li­chen Intel­li­genz, ste­hen wir im Begriff, die Lich­tung total wer­den zu las­sen. Wir wis­sen alles, kön­nen alles, haben alles unse­ren Inter­es­sen unter­tan gemacht. Alles scheint unse­ren Bedürf­nis­sen ver­füg­bar. Doch in Wahr­heit haben wir das Kost­bars­te zer­stört: die Leben­dig­keit der Welt: Vital­ly the human race is dying – um noch­mals D.H. Law­rence zu bemühen.
Law­rence sagt uns aber auch, wor­in vor die­sem fins­te­ren Hin­ter­grund die Auf­ga­be der Zukunft liegt: „We must plant our­sel­ves again in the uni­ver­se.“ Was kann das hei­ßen? Es heißt, uns neu­er­lich rück­zu­bin­den an das Uni­ver­sum – rück­zu­bin­den an das Sein der Welt und es als hei­li­gen Grund allen Lebens zu erken­nen; denn nur, wo wir als Mensch­heit rück­ge­bun­den blei­ben an die Wirk­lich­keit, die ist – wenn wir in der Wahr­heit wur­zeln und uns fügen in das Sein der Welt, wer­den wir auf Dau­er selbst im Sein ver­wei­len. Wer sich jedoch dau­er­haft dage­gen sträubt, im Ein­klang mit dem Sein der Welt zu wesen, läuft Gefahr, sein Wesen zu ver­feh­len, zu ver­we­sen und dem Nicht­sein zu erliegen.
Save our souls
Was aber heißt Rück­bin­dung ans Sein der Welt? Rück­bin­dung ans Sein der Welt bedeu­tet nichts ande­res als Reli­gi­on – abge­lei­tet vom Latei­ni­schen Re-ligio = Rück­bin­dung. Was uns D.H. Law­rence sagen will, lässt sich folg­lich auf die weni­ger poe­ti­sche, dafür aber poin­tier­te For­mel brin­gen: Wir – die Mensch­heit – brau­chen eine neue Reli­gi­on; jeden­falls, wenn wir ver­hin­dern wol­len, dass uns die Leben­dig­keit zuletzt noch ganz ver­lo­ren­geht. Noch liegt sie im Ster­ben. Noch ist jener See­len­tod nicht ein­ge­tre­ten. Noch ist Zeit, unse­re See­len zu ret­ten. SOS – Save our Souls. Wie? Durch eine neue Reli­gi­on, ein neu­es Sich-Ver­wur­zeln im hei­li­gen Sein die­ser Welt.
Aber hat die Reli­gi­on nicht schon seit lan­gem aus­ge­dient? Oder kla­rer for­mu­liert: Haben nicht die Reli­gio­nen längst schon aus­ge­dient? Und zwar alle Reli­gio­nen? Tra­gen sie nicht alle je auf ihre Wei­se dazu bei, dass die Mensch­heit, was ihre Leben­dig­keit betrifft, im Ster­ben liegt. Und wo unter­stüt­zen sie die Men­schen dar­in, sich im Uni­ver­sum zu ver­wur­zeln, kul­tu­rell und geis­tig zu wach­sen, zu rei­fen, zu erblü­hen und Frucht zu tra­gen? Wir­ken sie nicht oft das Gegen­teil: knech­ten mit der Fes­sel von Gebo­ten und mora­li­schen Geset­zen ihre Gläu­bi­gen, läh­men mit Bekennt­nis­sen und Dog­men deren Geist oder ent­füh­ren ihre See­len in luf­ti­ge spi­ri­tu­el­le Wel­ten, in denen sie zwar Ruhe fin­den aber weit davon ent­fernt sind, ihre Leben­dig­keits­po­ten­zia­le zum Erblü­hen zu bringen?
Mit einem blo­ßen Relaunch der bekann­ten gro­ßen reli­giö­sen Sys­te­me der Mensch­heit allein wird es nicht getan sein. Was wir brau­chen, um uns neu­er­lich im Uni­ver­sum zu ver­wur­zeln, ist nicht die Wie­der­be­le­bung toter Reli­gio­nen oder Göt­ter. Was wir brau­chen, sind nicht spi­ri­tu­el­le Tech­ni­ken oder Metho­den. Was wir brau­chen, ist ein neu­es Den­ken – ist ein neu­er Geist, der die ver­lo­re­ne Bezie­hung zum hei­li­gen Sein der Welt aller­erst stif­tet. Um unse­re Leben­dig­keit nicht gänz­lich ster­ben zu las­sen, braucht es eine Reli­gi­on, die völ­lig anders ist als alles – oder wenigs­ten das meis­te des­sen –, was die Mensch­heit bis­lang unter die­sem Label kann­te. Um die neue Reli­gi­on zu stif­ten, müs­sen wir Re-ligio neu den­ken lernen.
„Gott ist tot“
Dafür fra­gen wir zunächst, wem sie denn gel­ten soll. Die­se Fra­ge nötigt uns zum Den­ken. Reli­gio­nen waren bis­lang an einen Gott oder an vie­le Göt­ter adres­siert. Aber Fried­rich Nietz­sche dia­gnos­ti­zier­te schon mehr als hun­dert hun­dert Jah­ren: „Gott ist tot“. Und er ergänz­te: „Und wir haben ihn getö­tet.“ Damit hat­te Nietz­sche Recht. Denn der Gott, der über Tau­sen­de von Jah­ren im Islam, im Juden­tum und Chris­ten­tum als der gro­ße Schöp­fer­gott all­mäch­tig herrsch­te – die­ser Gott hat sei­ne Wirk­lich­keit ver­lo­ren, wirkt nicht mehr auf Men­schen, rich­tet sie nicht län­ger auf und aus. Und selbst da, wo sich die Men­schen noch zu ihm beken­nen, etwa in den brei­ten Mas­sen der Mus­li­me, geht von die­sem Gott schon lan­ge nicht mehr eine Ener­gie aus, die Kul­tu­ren oder Men­schen­tü­mer auf­zu­bau­en ver­möch­te – so wie es die gro­ßen Reli­gio­nen die­ser Erde vor­mals alle ein­mal taten.
Gott ist tot – und kei­ne der bekann­ten Reli­gio­nen wird ihn von den Toten auf­er­we­cken. Gleich­wohl aber braucht die Mensch­heit einen neu­en Gott. Die­se Ein­sicht stammt von Mar­tin Heid­eg­ger. Aus­ge­rech­net ihm, der 1932 mit den Nazis pak­tier­te und sich wahr­lich nicht als Aus­bund mensch­li­cher Inte­gri­tät erwie­sen hat. Doch soll­te uns das nicht dar­an hin­dern, sei­ne geis­ti­ge Arbeit zu wür­di­gen; zumal er zu unse­rem The­ma wirk­lich viel zu sagen hat. In einem legen­dä­ren Inter­view mit dem Nach­rich­ten­ma­ga­zin „Der Spie­gel“ aus dem Jahr 1966 sag­te Heid­eg­ger vor dem Hin­ter­grund der nuklea­ren Auf­rüs­tung des Kal­ten Krie­ges und der damals auf den Plan tre­ten­den neu­ar­ti­gen Wis­sen­schaft der Kyber­ne­tik: „Die Phi­lo­so­phie wird kei­ne unmit­tel­ba­re Ver­än­de­rung des jet­zi­gen Welt­zu­stan­des bewir­ken kön­nen. Dies gilt nicht nur von der Phi­lo­so­phie, son­dern von allem bloß mensch­li­chen Sin­nen und Trach­ten. Nur noch ein Gott kann uns retten.“
Ange­gan­gen vom Sein der Welt
„Gott ist tot“ und „Nur noch ein Gott kann uns ret­ten“ – wie will man die­se bei­den Sät­ze unter einen Hut bekom­men? Die­se Fra­ge ist der ers­te Schritt zur Ret­tung – zur Neu­ver­wur­ze­lung des Men­schen im Uni­ver­sum. Denn die­se Fra­ge nötigt uns zum Den­ken: Gott zu den­ken, neu zu den­ken. Denn solan­ge wir davor zurück­schre­cken, das Kon­zept „Gott“ grund­le­gend neu zu inter­pre­tie­ren, wird kei­ne neue Reli­gi­on mög­lich sein.
Wer oder was also ist Gott? Die­se Fra­ge führt uns nicht allein ins Den­ken. Sie führt uns an den Ursprung aller Reli­gi­on. Denn am Anfang einer jeden Reli­gi­on steht die Begeg­nung: ein Wider­fahr­nis, das den Men­schen das Wort „Gott“ abnö­tigt. So wis­sen wir, dass das alte grie­chi­sche Wort für Gott – theós – ursprüng­lich nicht eine Per­son benann­te, son­dern Aus­druck einer Erfah­rungs­qua­li­tät war: die Ant­wort des Men­schen auf ein über­wäl­ti­gen­des Ange­gan­gen­sein vom Sein der Welt. Immer wenn ein Mensch spür­te, vom Sein die­ser Welt per­sön­lich gemeint zu sein – wenn ihm etwas begeg­ne­te, das ihn anging, in Anspruch nahm und eine Ant­wort heisch­te, dann sag­te er: thé­os, Gott. Das konn­te das sil­ber­ne Mond­licht auf tau­be­glänz­ten Wie­sen sein – dann gab er der Erfah­rung des theós den Namen Arte­mis –, oder es war eine ret­ten­de Ein­ge­bung, dann nann­te er den theós die­ses Augen­blicks beim Namen der Athe­ne.
So oder so: Wenn immer uns etwas begeg­net, von dem wir wis­sen, dass es uns betrifft – wenn immer wir uns vom Sein die­ser Welt bedin­gungs­los in Anspruch genom­men wis­sen –, dann ver­dich­tet sich das uns Anspre­chen­de und uns Ange­hen­de zu dem Du, das wir als einen Gott ver­eh­ren. Gott, so brach­te es im 20. Jahr­hun­dert der Theo­lo­ge Paul Til­lich auf die For­mel, ist „das, was uns unbe­dingt angeht“ – und Reli­gi­on ist das „Ergrif­fen­sein“, das Ange­gan­gen­seins, bzw. unse­re Ant­wort auf den Anspruch, der in jedem Augen­blick vom hei­li­gen Sein die­ser Welt an uns ergeht.
Sinn und Geschmack für das Unendliche
Reli­gi­on ist mit­hin kein kogni­ti­ver Akt. Sie ist nicht gekop­pelt an Bekennt­nis­se und Dog­men. Sie hat nichts zu tun mit Unter­wer­fung oder Gehor­sam gegen ein mora­li­sches Gebot. Nein, ihr Wesen liegt dar­in, sich vom Sein die­ser Welt in Anspruch neh­men zu las­sen und mit dem eige­nen Sein auf die­sen Anspruch Ant­wort zu sein. Dafür braucht es nichts wei­ter als die Bereit­schaft und Offen­heit, sich vom hei­li­gen Sein die­ser Welt berüh­ren und anspre­chen zu las­sen. Umge­kehrt aber heißt das: Wer immer mit ver­schränk­ten Armen von der Welt steht und so tut, als gin­ge sie ihn gar nichts an, ist nicht nur nicht reli­gi­ös, son­dern begibt sich durch die­sen Ges­tus jeder Chan­ce auf Leben­dig­keit. Denn ihm schwin­den nach und nach der Sinn und der Geschmack für das, wor­in das Men­schen­le­ben grün­det. Reli­gi­on, die ihren Namen ver­dient, ist nach einem schö­nen Wort von Fried­rich Schlei­er­ma­cher nichts ande­res als „Sinn und Geschmack für das Unendliche.“
„Das Unend­li­che“ ist dabei eine Chif­fre oder auch ein Platz­hal­ter für das­je­ni­ge, was einst­mals „Gott“ zu hei­ßen pfleg­te. Es ist das, was nie­mals auf­hört, uns als Men­schen anzu­ge­hen: das­je­ni­ge, was alle Mög­lich­kei­ten in sich trägt und alle Wirk­lich­keit her­vor­ge­bracht hat; das­je­ni­ge, was wir füh­len, wenn wir uns unse­rer End­lich­keit bewusst wer­den und dabei doch im Hin­ter­grund ahnen, dass unser Leben sinn­voll ist und dass sein Sinn die Zei­ten über­dau­ern wird.
Aber was ist das Unend­li­che, das uner­müd­lich uns in Anspruch nimmt und zu uns spricht. Wohin müs­sen wir uns wen­den, wenn wir neu­er­lich im Uni­ver­sum wur­zeln wollen?
Hei­li­ge Lebendigkeit
Eine plau­si­ble Ant­wort gibt ein Den­ker, bei dem man sie zumeist wohl nicht ver­mu­ten wür­de, der aber ähn­lich wie wir uns heu­te anschi­cken, einst den küh­nen Ver­such unter­nahm, Gott und Reli­gi­on neu zu den­ken. Die Rede ist von kei­nem ande­ren als Pla­ton, der an der Schwel­le von der mythi­schen Zeit zur damals neu­en Ära der wis­sen­schaft­li­chen Ratio­na­li­tät das alte Mensch­heits­wis­sen des Mythos in eine neue Spra­che über­führ­te. Ganz am Ende sei­nes lan­gen Lebens sprach er aus, was sich aus sei­nem Den­ken als der eigent­li­che, wah­re theós die­ser Welt erwie­sen hat­te: „Die Leben­dig­keit, die See­le (psy­ché), lie­be Freun­de, muss doch wohl ein jeder Mensch für die Gott­heit hal­ten“, frag­te er. Und die letz­ten sei­ner Wer­ke, Tima­i­os, Phi­le­bos und die zwölf Bücher der Nomoi lie­fer­ten sei­ne Begrün­dung dafür.
Der Gedan­ke ist zwar alt, doch ist er frisch und jugend­lich wie am ers­ten Tag: Die Gott­heit, die uns allei­ne ret­ten kann – die Gott­heit, die nicht mit dem Tode Got­tes aus der Welt geschwun­den ist –, die­se Gott­heit ist nichts ande­res als all­um­fas­sen­de und alles wir­ken­de Leben­dig­keit. Das Sein der Welt ist über­all durch­wirkt von ihr. Und Leben­dig­keit ver­leiht dem Sein der Welt der Glanz der Hei­lig­keit. Pla­ton nann­te die­se hei­li­ge Leben­dig­keit des Kos­mos ger­ne auch die Wel­ten­see­le. Sich an sie zurück­zu­bin­den, sich als Mensch­heit an sie anzu­do­cken oder in sie ein­zu­wur­zeln, ist der sichers­te und bes­te Weg, den See­len­tod der Mensch­heit auf­zu­hal­ten. Wenn es stimmt, dass wir, was unse­re Leben­dig­keit betrifft, im Ster­ben lie­gen – dann besteht die Haupt­auf­ga­be für die Mensch­heit nur noch dar­in, einen neu­en Sinn und Geschmack für die Wel­ten­see­le aus­zu­prä­gen: eine Reli­gi­on der Leben­dig­keit zu stiften.
Hin­ga­be ans Leben
Was für eine Reli­gi­on wür­de das sein? Sie wäre eine Reli­gi­on der glü­hen­den und gren­zen­lo­sen Hin­ga­be ans Leben – eine Reli­gi­on der Lie­bes­lei­den­schaft fürs Sein der Welt. Eine sol­che Reli­gi­on braucht kei­ne Dog­men, kei­ne Regeln und auch kei­ne Kir­chen. Eine sol­che Reli­gi­on braucht nur ein neu­es Nar­ra­tiv, das in einer unver­brauch­ten Spra­che von der Hei­lig­keit und Schön­heit die­ser Welt mit allem, was in ihr leben­dig ist, zu kün­den weiß. So gese­hen braucht sie einen neu­en Mythos, aber nicht im Sin­ne über­hol­ter Göt­ter­sa­gen. Eine neue Spra­che für die alten Göt­ter ist von­nö­ten – eine Spra­che, die sich die Leben­dig­keit ganz von allei­ne sucht, um im Men­schen­wort die Men­schen zu begeis­tern, denn – um es in den Wor­ten Fried­rich Höl­der­lins zu sagen:
denn es ist die Zeit,
Daß aus der Men­schen Mun­de sie, die
Schö­ne­re See­le sich neu verkündet, […]
Und er, der sprach­los wal­tet und unbekannt
Zukünf­ti­ges berei­tet, der Gott, der Geist
Im Men­schen­wort, am schö­nen Tage
Kom­men­den Jah­ren, wie einst, sich ausspricht.
Wo und wie jedoch soll die­se neue Spra­che sich bekun­den? Woher neh­men wir die Spra­che, eine neue Reli­gi­on zu stif­ten und das Sein des Men­schen neu im Sein der Welt zu grün­den? Die­se Fra­ge lässt sich heu­te sicher­lich noch nicht beant­wor­ten. Eine Spur jedoch lässt sich erken­nen, wenn man auch an die­sem Punkt das Den­ken wagt und erwägt, was Spra­che wirk­lich ist. Spra­che näm­lich ist nicht das, wofür sie meis­ten­teils gehal­ten wird. Spra­che dient vor­nehm­lich nicht dem Aus­tausch von Infor­ma­tio­nen. Spra­che dient viel­mehr dem Aus­druck, der Bekun­dung oder Mit­tei­lung des Lebens.
Die Spra­che der Poesie
Spra­che ist in ihrem Wesen Poe­sie, die als Ant­wort auf den An- und Zuspruch der Leben­dig­keit gebo­ren wird. Poe­sie, d.h. die wesent­li­che Spra­che, wächst in der Begeg­nung mit der Welt. Sie ent­steht, wo sich ein Mensch dem Anspruch, der vom Sein der Welt an ihn ergebt, mit offe­nem Geist und Her­zen hin­gibt, und der dann mit sei­nen eige­nen Wor­ten dar­auf Ant­wort gibt. „Alles ist dem Dich­ter redend“, sagt Fried­rich Schle­gel ein­mal. Und der zeit­ge­nös­si­sche Poet David Whyte schreibt in sei­nem Gedicht Ever­y­thing is wai­ting for you:
Put down the weight of your alo­nen­ess and ease into
the con­ver­sa­ti­on. The kett­le is singing
even as it pours you a drink, the coo­king pots
have left their arro­gant aloof­ness and
seen the good in you at last.
Reli­gi­on ist eine Frucht sol­cher Begeg­nung: der Kon­ver­sa­ti­on von Mensch und Welt, die durch­glüht ist von der Lie­be zur Leben­dig­keit, die alles Sein durch­wal­tet. Das Gespräch, die Kon­ver­sa­ti­on, ist der Tem­pel der Leben­dig­keit. Oder, in den Wor­ten des gro­ßen Den­kers Mar­tin Buber: „Alles wirk­li­che Leben ist Begegnung“.
Die neue Reli­gi­on, die wir heu­te drin­gend brau­chen, wird eine Reli­gi­on des Gesprächs sein: eine Reli­gi­on, die sich dar­in erfüllt, sich lie­bend dem Anspruch des Lebens an uns hin­zu­ge­ben und die ihre Ver­ant­wor­tung dar­in erkennt, unter Ein­satz der eige­nen Per­son dem Anspruch des Lebens lie­bend Ant­wort zu sein. Dafür braucht es nicht viel. Gar nicht viel. Die neue Reli­gi­on ist so ein­fach, wie das Leben selbst. Sie ist nicht aske­tisch und nicht dog­ma­tisch, nicht mora­lisch und nicht spi­ri­tu­ell. Sie ist ein­fach nur mensch­lich, sucht die Begeg­nung mit dem hei­li­gen Sein inmit­ten die­ser Welt und ist dabei stets bereit, sich von ihm ange­hen zu lassen.
Fes­ten Her­zens und beherzt
Wer von ihr durch­drun­gen und erfüllt ist, wird nicht damit nicht allein sei­ne Leben­dig­keit am Leben hal­ten – nein, er wird auch nicht eher ruhen, als das gro­ße, wil­de Leben die­ser Welt von unse­ren Herr­schafts­ge­lüs­ten befreit ist. Er wird nicht der Ver­füh­run­gen einer tech­ni­schen Moder­ne mit ihren Heils­ver­spre­chun­gen der Öko­no­mie, der Künst­li­chen Intel­li­genz, des Human Enhance­ment oder des Trans­hu­ma­nis­mus erlie­gen. Viel­mehr wird er wis­sen, was dem Leben wirk­lich Sinn und Wür­de schenkt. Die Leben­dig­keit, die der Mensch nicht selbst erschaf­fen hat – und die er nie­mals selbst erschaf­fen wird, wohl aber drauf und dran ist zu ver­nich­ten. Und so wird der von der Reli­gi­on der Leben­dig­keit Ergrif­fe­ne sei­ne Wur­zeln zuletzt so tief ins Uni­ver­sum gegra­ben haben, dass er fes­ten Her­zens und beherzt auch sein Ster­ben als den letz­ten gro­ßen Akt des Lebens fei­ern kann; etwa, indem er auf dem Ster­be­bett mit Höl­der­lins Diot­ima das Cre­do spricht, das in hin­rei­ßend schlich­ter Schön­heit die neue Reli­gi­on der Leben­dig­keit vor­weg­ge­nom­men hat: „Zu sein, zu leben, das ist genug. Das ist die Ehre der Götter.“