Wohin führt uns die Straße des ungebremsten Fortschritts, Herr Quarch?

In Nepal werden derzeit Straßen gebaut. Das Land will den Tourismus voranbringen. Doch ist Fortschritt der Schlüssel für ein besseres Leben? Nicht unbedingt, sagt Philosoph Christoph Quarch, der Nepal bereist hat. Ein Gastbeitrag im Mannheimer Morgen

Was ist eine Straße? Haben Sie sich je diese Frage gestellt? Wohl eher nicht. Zu selbstverständlich sind uns Straßen, als dass wir auf die Idee kämen, sie in Frage zu stellen. Und doch ist diese Frage wichtig. Denn bei Lichte besehen ist eine Straße etwas zutiefst Fragwürdiges – und zwar deshalb, weil sie ihrem Wesen nach mehr ist als das, wofür wir sie gemeinhin halten: einen Verkehrsweg, auf dem Menschen und Güter mithilfe von Fahrzeugen transportiert werden können. So weit scheint die Sache klar. Und wenn in unserem Land Straßen dann doch einmal zum Gegenstand von Fragen werden, dann nur im Hinblick darauf, ob es wirklich Not tut, 144 Autobahnprojekte zu priorisieren oder ein Tempolimit einzuführen. Solche Debatten geben aber nicht zu erkennen, was eine Straße wirklich ist.

Das Mantra hinter diesen Bauprojekten lässt sich auf ein einziges Wort komprimieren: Fortschritt

Will man das Wesen einer Straße ergründen, tut man gut daran, dorthin zu schauen, wo es – noch – keine Straßen gibt. Zum Beispiel nach Nepal – eines der ärmsten Länder der Welt, eingepfercht zwischen den Giganten Indien und China an der Südseite des Himalaya. Dort findet man ausgedehnte Gebiete, die ob ihrer topographischen Situation bis vor kurzem nur auf Muli-Pfaden und über kühne Hängebrücken zu erreichen waren. Eine solche Region ist die Annapurna Conservation Area rund um den gleichnamigen, bis auf über 8000 Meter ansteigenden Gebirgszug nördlich der Stadt Pokara. Dort hat die nepalesische Regierung in den letzten dreißig Jahren kühne Straßenbauprojekte vorangetrieben, in deren Folge auch entlegenste Hochtäler mit motorisierten Fahrzeugen erreichbar geworden sind. Das Mantra hinter diesen Bauprojekten lässt sich auf ein einziges Wort komprimieren: Fortschritt.

Damit haben wir eine erste Antwort auf unsere Ausgangsfrage: Eine Straße ist Fortschritt. Nicht nur, sofern man auf ihr zügig fortschreiten kann, sondern weil sie all das mit sich bringt, was dem Menschen der Moderne fortschrittlich erscheint: Technik, Konsumgüter, Hygiene, Gesundheitsversorgung, Bildung, Wohlstand, Freiheit. So zumindest lautet die Verheißung, mit denen in Nepal den Einheimischen der Straßenbau schmackhaft gemacht wird. Ob dieses Versprechen aber auch gehalten werden kann – und ob der in Aussicht gestellte Fortschritt wirklich wünschenswert ist, steht hier nicht zur Diskussion. Denn so selbstverständlich wie dem Deutschen seine Straßen, so selbstverständlich scheint es den Menschen in Entwicklungsländern, dass Fortschritt etwas unbedingt Bejahenswertes ist. Deshalb wird der Straßenbau in Nepal mit Verve vorangetrieben; zumal es nicht nur darum geht, die ans Straßennetz angeschlossenen Locals mit den Segnungen des Fortschritts zu versehen, sondern auch die Haupteinnahmequelle des Landes zu optimieren: den Tourismus.


Die Annapurna-Region ist ein Traumziel von Trekkern, Bergbegeisterten und Naturfreunden aus aller Welt. Der Annapurna Circuit, ein Rundweg, bei dem ein mehr als 5400 Meter hoher Pass zu überwinden ist, galt jahrelang als ultimatives Highlight im Himalaya. Vor 25 Jahren benötigte man für diese Wanderung rund zweieinhalb Wochen. Heute kann man sie mit Hilfe von Jeeps auf eine knappe Woche reduzieren. Die Folge: Overtourism. Die Gasthäuser am Wegesrand sind übervoll, überall wird neu gebaut. Die Einheimischen geben ihre angestammte Landwirtschaft auf und erhoffen sich von den wohlhabenden Wandertouristen das schnelle Geld. Wer wollte es ihnen verdenken?

In einem Land, in dem jeder Zweite weniger als einen Dollar pro Tag verdient, ist jede monetäre Quelle willkommen. Die Straße scheint zu halten, was sie verspricht. Der Fortschritt ist in Jomson, Manang und selbst im fernen Mustang angekommen. Aber nicht nur der Fortschritt.

Mit der Straße kommen nicht nur die Touristen. Mit der Straße kommen nicht nur Konsumgüter, Baumaterialien, Smartphones, Medikamente und technische Geräte. Mit der Straße kommt unübersehbar auch der Müll. Es kommt der Lärm, es kommt Geschwindigkeit. Die Straße bringt den Menschen im Himalaya bei näherer Betrachtung vieles, was sie gar nicht brauchen und was wahrscheinlich dazu führen wird, dass sich der scheinbar segensreiche Straßenbau auf lange Sicht als Fluch erweisen wird. Schon jetzt wird das sichtbar.

Westlich von der Annapurna-Region reckt sich der 8164 Meter hohe Manaslu in den Himmel des Himalaya. Auch dieses Massiv kann man umrunden – ein zunehmendes populäres Unterfangen bei all denen, die in Nepal das Ursprüngliche, Echte, Natürliche und Wilde suchen. Nicht, dass der Straßenbau nicht auch in diese Gegend vorgedrungen wäre; aber er ist es noch nicht in dem Maße wie am Annapurna. Hier kann man noch eine gute Woche fern von jeder Straße auf den alten Pfaden wandeln – und bei dieser Gelegenheit darüber nachsinnen, was es eigentlich mit unserer Idee des Fortschritts und mit unserer Obsession für Straßen auf sich hat.

Mit eigenen Augen sieht man hier, wohin die Straßen und ihr Fortschritt führen: zur Entseelung des Lebens

Gewiss muss man sich dabei vor falschen Romantisierungen schützen. Wenn im 3800 Meter hoch gelegenen Samdo die tibetisch-stämmige Bevölkerung in zugigen Steinhütten auf engstem Raum mit ihren Tieren zusammenlebt und von den kärglichen Erträgen ihrer Felder leben muss, dann darf man bei aller pittoresken Schönheit ihrer Dörfer nicht auf die Idee verfallen, diese Menschen bräuchten keinen Fortschritt. So zu denken, wäre der Ausweis westlicher Hybris – genauso, wie zu denken, diesen Menschen könne nichts Besseres widerfahren, als möglichst schnell genau den Fortschritt zu bekommen, der uns wohlhabend und reich gemacht, zugleich aber beispiellose Probleme beschert hat: Naturzerstörung, Zerfall der Gemeinschaft, Sinnverlust des Einzelnen, Zivilisationskrankheiten… – und all das mit zunehmender Geschwindigkeit.

Man wird nachdenklich, wenn man am Manaslu wandert: am Seelenberg, wie er auf Deutsch heißt. Mit eigenen Augen sieht man hier, wohin die Straßen und ihr Fortschritt führen: zur Entseelung des Lebens. In den straßenfernen Dörfern des Hochlands sind die traditionellen Lebensformen noch lebendig. Die Menschen sind arm, doch sie feiern ihre Feste. Sie sind verankert im tibetischen Buddhismus, sie leben eingeflochten in das Netz der großen Natur, die sich dort oben von ihrer härtesten Seite zeigt. Trotzdem erwecken diese Menschen nicht den Eindruck, depressiv, unglücklich oder verzweifelt zu sein. Elend und Not sind jedenfalls nicht sichtbar. Auch dann nicht, wenn man sich als Wandertourist bewusst von allen romantisierenden und idyllisierenden Wahrnehmungen freizuhalten versucht. Sichtbar sind nur das Leuchten in den Augen und das Lächeln auf den Lippen dieser Menschen – und die Würde, die sie trotz der Einfachheit und Kargheit ihres Lebens umgibt.

Und so schleichen sich verstörende Fragen in das Hirn des Wanderers: Was ist es eigentlich mit unserem Fortschritt? Was ist es mit unseren Straßen? Führen sie zu dem, was wir uns wünschen? Führen sie zu einem guten Leben – zu einem Leben in Würde und Freiheit, zu einem Leben im Einklang mit der Natur, zu einem wirklich menschlichen Leben? Oder führen sie uns immer weiter davon ab? Führen sie uns in Entfremdung und Würdelosigkeit, zu einem Leben umgeben von Plastikmüll und geistigem Unrat, zu einem Leben in Depression und ohne Rückbindung an einen Sinn? Sind Straßen womöglich Irrwege, die uns gerade nicht zu einem guten Leben fortschreiten lassen? Ist die Zeit womöglich abgelaufen, da wir glauben konnten, unsere Straße sei der einzig richtige Weg? Ist das einfache, naturverbundene und würdevolle Leben der Himalayabewohner im Zeitalter von Klimawandel, Krieg und Sinnverlust am Ende nicht fortschrittlicher als das Leben auf und mit der Straße? Wäre es nicht besser, von diesen Menschen zu lernen als ihnen unseren vermeintlichen Fortschritt aufzuzwingen?

Es gibt keine einfachen Antworten auf diese Fragen. Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte: In einem Weg, der es den traditionellen Völkern erlaubt, ihre naturgemäße und humane Lebensform beizubehalten und zugleich durch Technik und Wissen zu optimieren. Darauf seinen Scharfsinn zu verwenden, erscheint fortschrittlicher, als gedankenlos Straßen in Bergtäler zu sprengen, die langfristig Mensch und Natur zerstören und die erhofften Touristen eher abschrecken als anziehen.

Die Zeit des ungebremsten Fortschritts ist vorbei. Um des guten Lebens willen brauchen wir ein Tempolimit

Denn Straßen sind in Wahrheit gar nicht die Verdichtungen des Fortschritts, sondern Medien der Beschleunigung. Was sie bringen, ist Geschwindigkeit – eine Geschwindigkeit, die uns überall hintragen kann: ins gelobte Land, aber auch in den Abgrund. Im Himalaya scheint Letzteres der Fall zu sein. Dort wird ein letztes Paradies im Namen der Geschwindigkeit vernichtet. Und dort kann man lernen, was heute mehr denn je für ein gutes und menschenwürdiges Leben notwendig ist: Bremsen, Entschleunigen, Stehenbleiben, Gehen. Die Zeit des ungebremsten Fortschritts ist vorbei. Um des guten Lebens willen brauchen wir ein Tempolimit. Auch in Deutschland.