Wo Kunst drauf steht ist Kunst drin

Wes­halb es falsch ist, Böh­mer­manns Schmäh­ge­dicht straf­recht­lich zu belangen.
Nun müs­sen wir also über Kunst reden. Denn deren Frei­heit gilt es zu ver­tei­di­gen. Und das umso mehr, weil offen­bar bis in die Poli­tik hin­ein Unklar­heit dar­über besteht, was Kunst ist. Reden wir also über Kunst und fra­gen wir: Was ist das eigent­lich? Die Fra­ge ist gewiss nicht leicht zu beant­wor­ten. Doch eines hat die Kunst des 20. Jahr­hun­derts ein für alle­mal gezeigt: Was Kunst ist, defi­niert sich durch den Kontext.
Das lehrt etwa die Arbeit von Mar­cel Duch­amp. Man den­ke an sein Meis­ter­werk von 1917: Es trägt den Titel „Foun­tain“, und es ist nichts ande­res als ein Uri­nal aus einem Sani­tär­ge­schäft. Zum Kunst­werk wird es ein­zig dadurch, dass Duch­amp es ins Umfeld einer Aus­stel­lung stellt und zum Kunst­werk dekla­riert. Kunst ist das, was als Kunst vor­ge­stellt wird. So ein­fach ist es.
Oder so schwie­rig. Denn die­se Defi­ni­ti­on for­dert dem Men­schen eini­ges ab. Etwa der legen­dä­ren Putz­frau, die angeb­lich ange­sichts einer Arbeit von Beuys in einem Muse­um frag­te: „Ist das Kunst oder kann das weg?“ Wer so fragt, sieht den Kon­text nicht – sieht nicht das Vor­zei­chen vor der Klam­mer, in der ein Werk zum Kunst­werk wird. Das Vor­zei­chen heißt: „Vor­sicht Kunst!“. Es sagt: Was dir hin­ter die­sem Vor­zei­chen begeg­net ist anders gemeint als es scheint. Es will von dir befragt sein. Es will dir etwas sagen. Es schreit nach Interpretation.
Das gilt auch für Sati­re. Wo sie als sol­che aus­ge­wie­sen wird, da steht das Vor­zei­chen vor der Klam­mer. Das heißt: Wenn Böh­mer­mann sein Schmäh­ge­dicht in einer Sati­re­sen­dung vor­trägt und dann auch noch erklärt: „So etwas ist in Deutsch­land nicht erlaubt“, da kann der Kunst­sin­ni­ge die Anfüh­rungs­zei­chen, inner­halb derer das Gedicht dar­ge­bo­ten wird, förm­lich sehen. Wer sie nicht sieht, benimmt sich wie die legen­dä­re Putz­frau. Wer Böh­mer­manns Gedicht für straf­ver­fol­gungs­wür­dig hält, ver­hält sich wie jemand, der in Duch­amps Uri­nal hin­ein­pin­kelt. Er hat nicht ver­stan­den, was Kunst ist.
Also müs­sen wir über Kunst reden. Denn Böh­mer­manns Gedicht ist Kunst. Viel­leicht ist es kei­ne gute Kunst. (Ich glau­be, das ist der Fall.) Doch das müs­sen Kunst­ken­ner ent­schei­den. Nicht aber Juris­ten. Und schon gar nicht eine Bun­des­kanz­le­rin. Doch bleibt die Fra­ge, wie weit Kunst denn gehen darf. Ist inner­halb der Klam­mer wirk­lich alles erlaubt? Darf man in Anfüh­rungs­zei­chen alles sagen?
Es ist eine gro­ße Kul­tur­leis­tung des euro­päi­schen Geis­tes, die­se Fra­ge grund­sätz­lich zu beja­hen. Groß­ar­tig ist die Leis­tung des­halb, weil sie der Kunst die Chan­ce gibt, unan­ge­neh­me Wahr­hei­ten aus­zu­spre­chen, lieb­ge­won­ne­ne Mei­nun­gen in Fra­ge zu stel­len, Dik­ta­to­ren bloß­zu­stel­len – kurz: zu den­ken zu geben. Ein Schmäh­ge­dicht – man glaubt es kaum – kann durch­aus auch die Wahr­heit sagen. Auch wenn es dem Geschmäh­ten noch so wenig passt.
Ein Bei­spiel dafür: Im Jah­re 1940 brach­te Char­lie Chap­lin eines der größ­ten Meis­ter­wer­ke der Film­kunst in die Kinos: „Der gro­ße Dik­ta­tor“ – ein ein­zi­ges Schmäh­ge­dicht auf Adolf Hit­ler. Die künst­le­ri­sche Qua­li­tät steht hier außer Zwei­fel. Gleich­wohl könn­te man sich vor­stel­len, dass der deut­sche Reichs­kanz­ler beim US-ame­ri­ka­ni­schen Staats­prä­si­den­ten ein Gesuch auf Straf­ver­fol­gung Chap­lins ein­reicht. Säße dort die Bun­des­kanz­le­rin, der Fall Chap­lin wäre wohl dem Staats­an­walt über­ge­ben worden.
Das Schmäh­ge­dicht von Böh­mer­mann hat nicht die Klas­se eines Chap­lin-Films. So viel ist sicher. Doch eines hat es mit ihm gemein­sam. Es ist Kunst. Es ist als Sati­re dekla­riert, und damit ist es Kunst. Man kann auch sagen: Es ist ein Spiel – ein Spiel, das als Spiel sicht­bar ist. Bei die­sem Spiel wird ein Gedan­ke durch­ge­spielt. Dage­gen ist nichts ein­zu­wen­den. Im Gegen­teil. So etwas ist eine gro­ße Kul­tur­leis­tung, die nur eines vor­aus­setzt: Zu begrei­fen, dass ein Spiel ein Spiel ist. Dazu dient das Vor­zei­chen. Wer das nicht sieht, outet sich als Spielverderber.
Wir reden über Kunst, nicht über Poli­tik. Dass Kunst in einer ande­ren Sphä­re spielt als Poli­tik, macht ihren Adel aus – und ihren unschätz­ba­ren Wert für die poli­ti­sche Kul­tur. Die­sen Wert darf man nicht leicht­fer­tig aufs Spiel set­zen. Wer die Frei­heit der Kunst miss­ach­tet, sägt an dem Ast auf dem er sitzt: dem Ast der Frei­heit, dem Ast der Kul­tur, dem Ast des Fort­schritts, dem Ast der Mensch­lich­keit. Denn Mensch­lich­keit gibt es nur da, wo man den Mut auf­bringt, sich unlieb­sa­men Sicht­wei­sen zu stel­len. Das lässt den Men­schen rei­fen – und eben­so eine Kultur.