Wir wollen zu viel und leben zu wenig

Das fik­ti­ve Phi­lo­so­phen-Inter­view im Redbulletin-Magazin

Sene­ca sagt: Wir wol­len zu viel und leben zu wenig…

Pan­de­mie, Kli­ma­kri­se – und dann auch noch Ärger daheim oder auf der Arbeit. Da ist es nicht immer leicht, cool zu blei­ben. Einer, der es dar­in zur Meis­ter­schaft brach­te, war Luci­us Annae­us Sene­ca. In unse­rem fik­ti­ven Inter­view mit dem deut­schen Phi­lo­so­phen Chris­toph Quarch ver­rät er das Geheim­nis der Gelassenheit.

THE RED BULLETIN: Herr Sene­ca, Sie waren zu Ihrer Zeit einer der wohl­ha­bends­ten Män­ner des römi­schen Rei­ches. Und Sie waren mäch­tig, hat­ten direk­ten Zugang zu Kai­ser Nero, des­sen Erzie­her Sie waren. Die­ser Nero ent­wi­ckel­te sich spä­ter nicht nur zu einem üblen Tyran­nen. Das ging so weit, dass er Sie zur Selbst­tö­tung nötig­te. Trotz­dem haben Sie nie die Ner­ven ver­lo­ren. Wie haben Sie angestellt?

Sene­ca: Ach wis­sen Sie, das alles ist doch nur eine Fra­ge der Ein­stel­lung. Es gibt Din­ge, an denen kön­nen Sie nichts ändern. Am Tod schon mal gar nicht. Irgend­wann müs­sen Sie ster­ben. Ein paar Jah­re frü­her oder spä­ter? Was macht das schon, wenn Sie vor­her damit ange­fan­gen haben, so zu leben, dass Ihre Tage Sie erfül­len und glück­lich machen.

Naja, aber das ist doch gera­de das Pro­blem. Das Leben ist eben nicht immer ein­fach. Und nicht jeder ist so reich wie Sie es waren.

Aber nein, mein Freund, das hat doch mit dem Reich­tum nichts zu tun. Der Gemüts­ru­he, von der wir hier reden, ist der Reich­tum sowie­so eher hin­der­lich. Und wis­sen Sie war­um? Weil Sie sich stän­dig um ihn sor­gen müs­sen: „Wie kann ich die Koh­le anle­gen? Wie kann ich Sie schüt­zen? Was kann ich damit tun?“ Anstatt ein­fach zu leben und der täg­li­chen Arbeit nach­zu­ge­hen, zieht Geld stän­dig unse­re Auf­merk­sam auf sich und appel­liert stän­dig an unse­ren Wil­len: „Mach was mit mir! Tu, was du willst!“ Genau das steht der Gelas­sen­heit im Wege: Wir wol­len zu viel, und sind zu wenig.

Sie mei­nen: Wir sind dabei zu wenig im Hier und Jetzt. Ihr Lands­mann Horaz sag­te „Car­pe Diem“ – Pflü­cke den Tag. Gehen Sie da mit?

Ja, der gute alte Horaz. War ein tol­ler Dich­ter, und das „Car­pe Diem“ hat er wirk­lich schön gesagt. Aber mit geht es um mehr. Immer­zu im Hier und Jetzt zu leben, kann ja auch bru­tal anstren­gend wer­den. Und zwar dann, wenn Sie dau­ernd – und das macht Ihr Modern­lin­ge ja beson­ders gern – danach schau­en, dass Sie die fet­tes­te Frucht am Baum des Lebens pflü­cken. Aber so wird das nichts mit der Gemüts­ru­he. Wenn du nur gelas­sen sein willst, damit du ein tol­les Leben hast, wirst du Gegen­teil bekom­men: Dau­er­stress. Eure Selbst­be­züg­lich­keit ist’s, die euch nicht zur Ruhe kom­men lässt.

Hm, das heißt, um wirk­lich gut zu leben, soll­ten wir weni­ger um uns selbst kreisen.

Kor­rekt, mein Freund. Und wenn ich mich mal selbst zitie­ren darf, dann neh­men Sie fol­gen­des als mei­ne Ant­wort: „Es kann nie­mand gut leben, der nur an sich denkt und alles sei­nem per­sön­li­chen Vor­teil unter­stellt. Du musst für den ande­ren leben, wenn du für dich selbst leben willst.“

Aber wie wer­de ich dabei gelas­sen? Der Stress wird doch grö­ßer, wenn ich auch noch für ande­re sorge.

Eben nicht. Stress hast du, wenn du bei allem, was du tust, dein Ziel errei­chen willst. Wenn du sagst: „Hey, ich enga­gie­re mich total für Flücht­lin­ge, weil ich will, dass es denen bes­ser geht!“, tust du es bei Lich­te bese­hen nur für dich und nicht für die­se Leu­te. Für ande­re leben heißt: Du tust, was dran ist. Du nimmst die Din­ge, wie sie sind: „Aha, Men­schen sind in Not. Was brau­chen die jetzt?“ Dar­auf gibst du Ant­wort, das ist dei­ne Ver­ant­wor­tung. Du han­delst. So hab ich’s auch gehal­ten, als Nero sei­nen Boten schick­te: „Aha, der Kai­ser will, dass ich ster­be. Das kann ich nicht ändern. Also mach ich den Abgang.“ Cool, oder?

Luci­us Annae­us Sene­ca (1 bis 65 n.Chr.) war ein römi­scher Poli­ti­ker, Phi­lo­soph, Dra­ma­ti­ker und Natur­for­scher. Sei­ne Schrif­ten wur­den schon zu Leb­zei­ten viel gele­sen. Seit dem Jahr 49 war er maß­geb­li­cher Erzie­her und Bera­ter des spä­te­ren Kai­sers Nero. Sene­ca sah sich selbst in der Tra­di­ti­on der stoi­schen Phi­lo­so­phie, deren Lebens­kunst­leh­ren er in sei­nen spä­ten Jah­ren in Essays und sei­nen „Brie­fen an Luci­li­us“ einem brei­ten Publi­kum vermittelte.