Wir brauchen eine neue Religion

Mein Sonntagsimpuls zum Weltreligionstag

Was können wir einer Pandemie entgegensetzen? – Unsere Ökonomie? Nein, die geht selbst in die Knie. – Unsere digitale, intelligente Informationstechnologie, die uns zuletzt Unsterblichkeit in Aussicht stellte? Offenbar nicht, um sie ist es seit dem Ausbruch von Corona plötzlich still geworden; auch ist sie nicht da, wo man sie gern gesehen hätte: in der ersten Reihe der medizinischen Versorgung. – Dann bleibt wohl nur die Wissenschaft? Ja, aber die Wissenschaft braucht immer eine Weile, bis mit ihrer Hilfe Impfstoffe und Medikamente entwickelt werden können. Und bis dahin?

In früheren Zeiten hätten sich die Menschen aller Völker und Kulturen in einer solchen Situation in die Arme ihrer Religion geworfen. Bitt- und Bußprozessionen wären durch die Städte gezogen, Gottesdienste hätten allenthalben Gläubige versammelt. Diese Zeiten aber sind vorbei. Die Gotteshäuser stehen leer – man vertraut eher auf die Warnungen der Wissenschaftler als auf das rettende Eingreifen Gottes. Selbst wenn es kein Versammlungsverbot gäbe, quellen die Kirchen wohl eher nicht über. Wer es bislang noch nicht wahrhaben wollte, findet hier den eindrucksvollen Nachweis dafür, wie Recht Friedrich Nietzsche hatte, als er vor 140 Jahren notierte: »Gott ist tot. Und wir haben ihn getötet.« Vielleicht sind wir hier bei dem historischen Alleinstellungsmerkmal der Corona-Pandemie. Es ist nicht nur die erste globale Seuche, sondern auch die erste Seuche in der Zeit nach dem Tode Gottes. Und da liegen Problem und Chance.

Das Problem besteht darin, dass mit der angestammten Religion dem Menschen der Moderne die Möglichkeit verloren gegangen ist, eine geistige Handhabe für den Umgang mit der Pandemie zu finden: ein geistiges Instrumentarium, das ihm erlaubte, irgendeinen Sinn in dem zu finden, was gerade geschieht. Ohne dieses Instrumentarium droht die Gefahr, ob der Wucht der Seuche zu verzweifeln, weil all das, mit dessen Hilfe man bislang das Sinnvakuum kaschieren konnte – Entertainment, Konsum etc. –, porös wird; und weil man dann nichts mehr entdecken kann, woraus Trost, Ermutigung und Energie wachsen könnten. Gerade in Krisenzeiten brauchen wir geistige Nahrung, an der wir uns begeistern können: Sinnperspektiven, Visionen, gute Gedanken, die uns motivieren durchzuhalten und nach vorne zu schauen.

Damit kommen wir zur Chance, die infolge von Corona erkennbar wird: »Nah ist und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«. So schrieb es der just vor 250 Jahren (am 20. März 1770) geborene Dichter Friedrich Hölderlin. Der rettende »Gott«, von dem er schreibt, ist »schwer zu fassen«. Wir kennen seinen Namen nicht. Nur so viel ist gewiss, dass er ganz anders sein wird als all die alten Götter, deren Häuser nunmehr leer stehen. Vielleicht ist er auch gar kein Gott, sondern vielmehr ein göttlicher Geist, der uns zu einem Neuanfang begeistern kann. So wie es in der Menschheitsgeschichte immer schon Neuanfänge gab, bei denen plötzlich, wie aus dem Nichts, ein bis dato unbekannter Geist zu wehen begann, die Menschen ergriff und sie dazu bewegte, neue Wege einzuschlagen. Oft war damit – wie etwa in der europäischen Renaissance – eine außerordentliche kulturelle Blüte verbunden. Meistens fanden die vom Geist bewegten Menschen auf eine neue Weise zusammen und rückten enger aneinander.

Könnte es sein, dass eben dafür die Zeit gekommen ist: für eine neue Religion? Nicht im Sinne der alten Religionen, sondern im ursprünglichen Sinne des lateinischen Wortes religio, das (vermutlich) vom Verbum religare (= rückbinden) abstammt: eine neue Rückbindung an das lebendige Sein dieser Welt – an die Natur, die wir so lange Zeit missachtet haben; an das Leben, dessen Wert und Wunder uns nun wieder sonnenhell vor Augen stehen; aneinander, da wir dieser Tage begreifen müssen, dass Menschsein nur gemeinschaftlich gelingen kann; eine Rückbindung an den lebendigen Geist der Lebendigkeit.

Vielleicht ist dies am Ende die wichtigste und dringlichste Lektion, die uns Corona lehrt: Wir brauchen eine neue religio an das Sein dieser Welt – eine Hinwendung zur lebendigen Natur, die uns einlädt, deren Heiligkeit zu erkennen und unsere Zugehörigkeit zu ihr begreifen. Es geht nicht um neue Dogmen, Gebote, Kulte oder Kultgemeinschaften. Es geht einfach nur darum, uns wieder einzulassen auf die Welt, in der wir leben: mit ihren unermesslichen Freuden und ihren beängstigenden Schrecken, mit ihrer Schönheit und ihrer Tragik.

Corona lehrt, dass nichts für unseren Fortbestand so gefährlich ist, wie die völlige Bindungslosigkeit und Ignoranz von Menschen, die glauben, nichts und niemand gehe sie etwas an; die sich über alles stellen, was um sie herum geschieht. In nichts anderem manifestiert sich der »Tod Gottes« mehr als in dieser Haltung des »Betrifft mich nicht«. Die neue Religion, die uns nicht aus, aber in dieser Krise retten kann, ist die Hinwendung zu Mensch und Welt: ein begeistertes Ja zum Leben. In seiner reifsten Form ist das nichts anderes als Liebe – eine Liebe, die so groß ist, dass sogar der Tod vor ihr verblasst.

Ermunterung

(Friedrich Hölderlin – 2. Fassung)

Echo des Himmels! heiliges Herz! warum,
Warum verstummst du unter den Lebenden,
Schläfst, freies! von den Götterlosen
Ewig hinab in die Nacht verwiesen?

Wacht denn, wie vormals, nimmer des Aethers Licht?
Und blüht die alte Mutter, die Erde nicht?
Und übt der Geist nicht da und dort, nicht
Lächelnd die Liebe das Recht noch immer?

Nur du nicht mehr! doch mahnen die Himmlischen,
Und stillebildend weht, wie ein kahl Gefild,
Der Othem der Natur dich an, der
Alleserheiternde, seelenvolle.

O Hoffnung! bald, bald singen die Haine nicht
Des Lebens Lob allein, denn es ist die Zeit,
Daß aus der Menschen Munde sie, die
Schönere Seele, sich neuverkündet,

Dann liebender im Bunde mit Sterblichen
Das Element sich bildet, und dann erst reich,
Bei frommer Kinder Dank, der Erde
Brust, die unendliche, sich entfaltet

Und unsre Tage wieder, wie Blumen, sind,
Wo sie, des Himmels Sonne, sich ausgeteilt
Im stillen Wechsel sieht und wieder
Froh in den Frohen das Licht sich findet,

Und er, der sprachlos waltet und unbekannt
Zukünftiges bereitet, der Gott, der Geist
Im Menschenwort, am schönen Tage
Kommenden Jahres, wie einst, sich ausspricht.

(aus Neustart 15 Lehren aus Corona – von mir im März verfasst – ist im legendaQ Shop erhältlich mit diesem Link erhältlich.