Westalgie – Aufrichtige Bekenntnisse eines Bürgers, der an seinem Land verzweifelt

Erlau­ben Sie mir ein offe­nes Wort: Ich lei­de an einer Krank­heit, über die man eigent­lich nicht spricht. Obwohl sie weit ver­brei­tet ist. Doch liegt ein mäch­ti­ges Tabu auf ihr. Dabei hat sie einen Namen, der frei­lich meist ver­schwie­gen wird. Die­ser Name ist das offe­ne Wort, das ich zu Ihnen spre­chen will. Es heißt: West­al­gie.
Und das bedeu­tet fol­gen­des: Ich seh­ne mich nach dem alten Wes­ten. Ich seh­ne mich nach der Bon­ner Repu­blik. Ich seh­ne mich nach der BRD. Und die­se Sehn­sucht wächst; mit jedem Tag, der neue Nach­rich­ten aus dem Osten bringt: aus Baut­zen und Dres­den, aus Claus­nitz und Frei­berg. – Jaja, natür­lich, rech­te Gewalt gibt’s auch im Wes­ten, ich weiß, ich weiß, aber der Osten domi­niert eindeutig.
Und wie soll­te er auch nicht? Wie soll­te es denn gehen, dass die SED-Herr­schaft dort kei­ne Spu­ren hin­ter­las­sen hät­te? Natür­lich hat sie Spu­ren hin­ter­las­sen; und die Spur, in der zur Zeit so vie­le Men­schen gehen – die sie in die AfD treibt (Jaja, natür­lich, AfD Wäh­ler gibt es auch im Wes­ten, ich weiß, ich weiß) – die­se Spur ist schnell benannt. Es ist die poli­ti­sche Unbil­dung. Es ist der feh­len­de Sinn für demo­kra­ti­sche Wer­te. Ja, mehr noch, es ist die Unemp­fäng­lich­keit für den poli­ti­schen Geist, der die BRD zur Blü­te brachte.
Das müs­sen wir im Wes­ten uns wohl an die eige­ne Nase fas­sen. In alles haben wir inves­tiert: Infra­struk­tur, Wirt­schaft, Ver­kehrs­we­ge – nur nicht in das Aller­wich­tigs­te: in Bil­dung. Haben wir wirk­lich geglaubt, die Bür­ger der DDR wür­de ganz von allein vom demo­kra­ti­schen Geist ergrif­fen wer­den? Haben wir wirk­lich geglaubt, es sei ihnen um unse­re Wer­te gegan­gen, als sie in Leip­zig und Ber­lin demons­trie­ren gin­gen? Ich fürch­te ja, ich fürch­te fast, wir waren so naiv.
Was Bil­dung, Geist und Wer­te angeht, waren wir im Wes­ten jeden­falls schon wei­ter. Ich gehö­re einer Gene­ra­ti­on an, die mit dem Inter­rail-Pass in der Tasche zu Euro­pä­ern wur­de. Ich gehö­re einer Gene­ra­ti­on an, die dar­an glaub­te, ein fried­li­ches, öko­lo­gi­sches und gast­frei­es Euro­pa bau­en zu kön­nen. Mit­te der 1980er Jah­re konn­ten wir uns nicht vor­stel­len, dass wir im Jah­re 2016 einen sol­chen Rechts­ruck in unse­rem Land erdul­den müss­ten. Nazis waren für uns Dino­sau­ri­er, die bald aus­ster­ben wür­den. Wir waren–anders als unse­re Alters­ge­nos­sen im Osten – mit den Gräu­el­ta­ten der Nazis kon­fron­tiert wor­den. Wir leb­ten nicht in einem Staat, der wie die alte DDR glaub­te, durch sei­ne pure Exis­tenz sich des The­mas Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung ent­he­ben zu kön­nen. Nein, wir wuss­ten, dass es an uns lie­gen wür­de, dass so etwas NIE wie­der in die­sem Land geschieht. Und wir hät­ten uns nicht träu­men las­sen, dass im Jahr 2016 Men­schen unse­rer Gene­ra­ti­on in Scha­ren eine neo­fa­schis­ti­sche Par­tei wäh­len würden.
Doch dann kam alles anders. Dann kam die Wie­der­ver­ei­ni­gung. Der Fall der Mau­er – des anti­fa­schis­ti­schen Schutz­walls. Son­der­bar, wie die Geschich­te die Bedeu­tung von Wor­ten zu ändern ver­mag. Jene, die die Mau­er auf die­sen Namen tauf­ten, woll­ten damit den Bür­gen der DDR weiß­ma­chen, west­lich der Mau­er säßen die Nazis, vor denen man sie schüt­zen müs­se. Das war eine glat­te Lüge. Heu­te kommt einem der Gedan­ke, die­ser Schutz­wall sei viel­leicht doch nicht unnütz gewe­sen – um die im Wes­ten vor dem kei­men­den Faschis­mus im Osten zu schüt­zen. Aber auch so etwas darf man natür­lich nicht denken.
Eben­so wenig wie man den schreck­li­chen Ver­dacht aus­spre­chen darf, der mich immer wie­der heim­sucht, wenn ich die Bil­der von Pegi­da und den rech­ten Auf­mär­schen im Osten sehe – den Ver­dacht, dass jenes „Wir sind das Volk!“, das wir sei­ner­zeit so sehr bewun­der­ten, bei eini­gen womög­lich gar kein Ruf nach Frei­heit oder Demo­kra­tie war, son­dern Aus­druck eines sub­ku­ta­nen Nazi­tums. Auf jeden Fall klingt die­se Paro­le heu­te so ganz anders. Viel­leicht zeigt sie heu­te ihr wah­res Gesicht, was all denen Recht geben wür­de, die schon 1989 ein mul­mi­ges Gefühl bei den Bil­dern der skan­die­ren­den Men­ge im Osten hatten.
Mir graut vor dem, was ich hier schrei­be. Viel­leicht soll­te ich es mir ver­bie­ten. Doch die West­al­gie zwingt mich dazu, dem ungu­ten Gefühl in mei­nem Her­zen Luft zu machen – mehr noch: der Bestür­zung und tie­fen Sor­ge mei­nes Her­zens Luft zu machen. Denn ich ertra­ge es nicht mehr, dass die poli­ti­sche Agen­da die­ses Lan­des von Men­schen dik­tiert wird, denen Demo­kra­tie und Rechts­staat fremd zu sein schei­nen. Ich ertra­ge es nicht mehr, von einer Frau Petri dar­über belehrt zu wer­den, was demo­kra­tisch ist. Ich ertra­ge es nicht mehr, Bil­der von ran­da­lie­ren­den Ver­bre­chern sehen zu müs­sen, auf deren schwar­zer Wes­te geschrie­ben steht: „Natür­li­che Här­te gebo­ren im Osten“.
Ich muss wohl krank sein. Ich lei­de an West­al­gie. Die Welt scheint mir ver­dreht zu sein. Mir scheint: Die Son­ne geht im Osten unter.