Werter Jürgen Habermas,

herzlichen Glückwunsch zum heutigen 90sten Geburtstag und tiefsten Dank für Ihr Vor- und Weiterdenken und Ihr ungebrochenes in Frage stellen.

Ihr Christoph Quarch

P.S. Gerne poste ich heute, am 18. Juni 2019 zu Ihren Ehren meine Rezension aus dem Jahr 1996

„Nein“ zur Nation
Politische Identität gründet in geteiltem Recht

Jürgen Habermas:
Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996, 404 Seiten, DM 36,-.

Laut Hegel ist es Sache der Philosophie, den Geist ihrer Zeit auf den Begriff zu bringen. Misst man das Schaffen der Philosophen an diesem Anspruch, wird man Jürgen Habermas einen der großen unter ihnen nennen dürfen. Kaum einem anderen gegenwärtigen Denker ist es gelungen, den moralischen „common sense“ der alten Bundesrepublik so genau zu treffen – und nicht nur zu treffen, sondern auch zu begründen.
Habermas verteidigt die vielleicht nicht perfekte, so aber doch leidlich erfolgreiche politischen Kultur der Bonner Republik gegen die Propagisten eines selbstbewußten wiedervereinten Deutschlands. Hatte er sich in seinem großen Projekt „Faktiziät und Geltung“ (1994) darauf beschränkt, die ethische Grundegung seiner Theorie des Rechtsstaats zu leisten, so verlegt er sich in seinem neuen Werk „Die Einbeziehung des Anderen“ vornehmlich auf Anwendungsfragen – Fragen, in denen sich die bewährte moralische Intuition der Deutschen zunehmend in die Defensive getrieben fühlt. Habermas’ Verdienst ist es, ihr auf verständliche Art starke Argumente zuzuspielen.
Was Habermas am meisten beschäftigt, ist die Frage, wie sich ein politischen Gemeinwesen integriert. Es geht ihm um das Selbstverständnis der Bürger, ihre Identität und ihre Bereitschaft, diese mit anderen zu teilen – es geht um die Einbeziehung des Anderen. Und um diese Frage geht es in verschiedener Hinsicht. Sie betrifft einerseits die Integration ausländischer Mitbürger in unsere Gemeinschaft, sie betrifft auch die Integration von Minderheiten in die Gesamtgesellschaft, und sie betrifft die Integration Deutschlands in den übergreifenden Zusammenhang der europäischen und der Weltgemeinschaft.
In allen drei Fragebereichen bezieht Habermas eine Position, die der moralischen Intuition des Bundesrepublikaners Rechnung trägt. Für die Ausländer in Deutschland fordert er eine offensive Einwanderungspolitik, die ihnen die Teilnahme am politischen Leben ermöglicht. Von religiösen, ethnischen oder sozialen Minderheiten erwartet er die Bereitschaft zur Anwendung ihrer von der Verfassung verbrieften politischen Gestaltungsmöglichkeiten, bestreitet eben deshalb aber jedes Recht auf Separation und Selbständigkeit. Und analog dazu plädiert er für ein schrittweises Abtreten der nationalstaatlichen Souveränität zugunsten rechtsförmig organisierter, internationaler Zusammenschlüsse.
Diese Beispiele sind nicht die Frucht einer bestimmten, „linken“ Weltsicht von Habermas. Sie entspringen vielmehr seiner Theorie einer legitimem, rechtsstaatlich organisierten Politik. Das heißt: Habermas geht aus von der Frage, an welchem normativen Kriterium bemessen werden kann, ob ein Gemeinwesen moralisch gerechtfertigt ist. Und mit dem erarbeiteten normativen Begriff eines Gemeinwesens an der Hand, kann er die genannten Einzelfragen im Sinne dieses Kriteriums einer gerechten Politik beantworten.
Wie, so Habermas’ Kernfrage, lässt sich Moral – und ineins damit die Legitimität von Herrschaft – unter Bedingungen des „nachmetaphysischen Denkens“ überhaupt noch begründen? Im ersten Teil von „Einbeziehung des Anderen“ umreißt er knapp die seinen Getreuen vertraute Antwort: In einer pluralistischen Welt, die ihre Moral nicht mehr aus einem allseits selbstverständlichen Ethos schöpfen kann, muss sie ihren Halt in der kommunikativen Vernunft der Menschen haben. Vereinfachend gesagt: Wenn uns nichts anderes bleibt, als uns über moralische Fragen gesprächsweise zu verständigen, dann ist die Einhaltung beziehungsweise Sicherung der Bedingungen verständigungsorientierter Diskurse die höchste Norm. Dazu gehören solche „Basics“ wie die Bereitschaft, die Meinung des anderen zu hören, Meinungsverschiedenheiten gewaltfrei zu lösen, die Würde der Menschen unabhängig von ihrer Meinung zu respektieren.
Diese „Basics“ bilden das normative Gerüst eines auf keine andere Moral mehr einzuschwörenden Gemeinwesens. Sie nehmen Gestalt an in den Grundrechtskatalogen der westlichen Verfassungen und markieren als solche die Eckpfeiler eines demokratischen Rechtsstaates. Demokratisch muss der Rechtsstaat sein, weil allein die Beteiligung der Bürger an den politischen Auseinandersetzungen die normativ erforderliche gemeinsame Aussprache über das je zu Tuende gewährleistet. Kurz: In einer säkularen und pluralen Welt ist der demokratische Rechtsstaat die einzig legitime politische Ordnung.
Dieses Konzept einer „deliberativen Politik“ hat eine wichtige Konsequenz für das Staatsverständnis. Staat ist ihm zufolge keine substanziell eigenständige Größe, sondern der fortwährende, in Institutionen kanalisierte Prozess der Willensartikulation und -durchsetzung seiner Staatsbürger. Für diese wiederum bedeutet dies, dass sie nicht qua Teilhabe an einem überindividuellen Staatssubjekt Staatsbürger sind, sondern qua Mitwirken am gemeinschaftlichen, politischen Prozess.
Mit diesem Gedanken ist die Antwort auf die Frage nach der moralisch akzeptablen Identität von Bürgerinnen und Bürgern bereits gegeben. Man gehört zu einem Gemeinwesen durch das gemeinsam geteilte, ständig im Prozess befindliche Mitwirken an Politik und Rechtsordnung. Staatsbürgerliche Identität beruht weder in der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Volksgemeinschaft, noch in einer geteilten Kultur und Religion.
Daraus erklärt sich Habermas’ scharfe Ablehnung der Nation als eines gültigen Identitätsfaktors. Im Kapitel „Hat der Nationalstaat eine Zukunft?“ konzidiert Habermas zwar, dass die in der französischen Revolution erfolgreiche Koppelung von republikanischer Gesinnung und nationalem Bewusstsein dem modernen Rechtsstaat vom Kopf auf die Füße geholfen hat. Das bedeute aber nicht, dass diese Koppelung heute noch zu vertreten wäre. Die Zeit ist vorangeschritten, und eine gereifte politische Kultur kann und muss die Nation heute wie eine Leiter hinter sich lassen, über die sie zwar stieg, die danach aber überflüssig geworden ist.
Selbst wenn die Nation irgendeine legitimierende Kraft hätte, bliebe sie unter den Bedingungen der Globalisierung von Technik, Verkehr und Wirtschaft hoffnungslos veraltet. Die weltumspannende Dimension der Menschheitsprobleme erfordert für Habermas eine idealerweise weltumspannende, mindestens aber europaweite politische Form. Europa muss sich, da ist Habermas ganz deutlich, eine gemeinsame rechtsstaatliche Ordnung geben, damit es auf den akuten Problembestand adäquat reagieren kann.
„Utopie!“, pflegen angesichts solcher Postulate die Europa-Gegner und Nationalitätsfreunde im Lande zu wettern. Doch gegen jeden Utopismus-Vorwurf ist Habermas längst resistent. Denn gerade bei der Forderung einer transnationalen Politik bewährt sich sein Konzept der deliberativen Politik. Wenn eine normativ gerechtfertigte staatsbürgerliche Identität nur noch in der geteilten Mitwirkung am politischen Prozess besteht, bedarf es für ein geeintes Europa nicht einer (utopischen) europäischen Volksgemeinschaft, sondern lediglich einer geteilten politischen Praxis der europäischen Staatsbürger.
Aus demselben Grund plädiert Habermas für eine offensive Einwanderungspolitik. Wenn für die politische Identität die kulturelle oder religiöse Herkunft der Bürger keine tragende – wohl aber eine untergeordnete! – Rolle spielen, spricht nichts dagegen, den in Deutschland lebenden Ausländern die gleichen politischen Teilnahmerechte einzuräumen wie den angestammten Deutschen. Um Partner im politischen Prozess zu sein, bedarf es keiner Volksgenossenschaft.
Ein klares Ja zur Integration von Ausländern, ein klares Ja zu Europa, ein deutliches Nein zu jedem Nationalismus – Habermas scheut keine scharfen Kanten. Er kann sich dies leisten, da seine politische Philosophie in ihrem Kernbestand die wichtigsten opponierenden Theorien aufgenommen und produktiv integriert hat.
Wie die im Schlussteil seines Buches versammelten Antworten auf Kritiker unterschiedlicher Couleur belegen, hat er sowohl liberalistische als auch kommunitaristische Anregungen in seine Überlegungen aufgenommen. Nicht zuletzt das verschafft seiner Theorie Tragfähigkeit. Wer an den alten bundesrepublikanischen Werten wie Offenheit gegen Fremde, nationale Bescheidenheit und bürgerliche Mitsprache festhalten will, ist gut beraten, sich mit dem Arsenal der Habermasschen Argumente vertraut zu machen. cq