Wächst das Rettende auch

Ver­such über das Notwendige

Die Not

Wann ist es Not? Wann braucht es das Not­wen­di­ge? Not ist, wenn uns fehlt, was wir benö­ti­gen; wenn das aus­bleibt, des­sen wir bedür­fen. Und not­wen­dig ist, unse­re Bedürf­nis­se zu stil­len – denn sonst wer­den sie zu Nöti­gun­gen, die uns unse­re Frei­heit rau­ben. Des­halb ist in Not, wer Man­gel an dem lei­det, des­sen er bedarf. Dürf­tig ist das Dasein derer, denen fehlt, was nötig ist. Ihnen bleibt allein die Hoff­nung auf das­je­ni­ge, was ihre Not noch wen­den könn­te. Ihnen bleibt allein die Hoff­nung auf die not­wen­di­ge Rettung.

Die Zeit, in der wir leben, lei­det Not. Sie ist eine dürf­ti­ge Zeit, um ein Wort des Dich­ters Fried­rich Höl­der­lin her­an­zu­zie­hen. Ihre Not ist umso grö­ßer, als wir sie kaum ahnen. Sie ist unge­fühlt und unge­nannt, weil wir nicht wis­sen, wes­sen wir bedür­fen – weil die Not ver­bor­gen wuchert und weil wir den Man­gel nicht mehr spü­ren. Wir sind ihn gewohnt, weil er schon lan­ge mit uns wohnt; so lan­ge, dass wir nicht mehr gewah­ren, wes­sen wir erman­geln und was für uns Men­schen not­wen­dig, ja eine Ret­tung ist.

Wel­che Not durch­wal­tet unser Woh­nen in der Welt der Gegen­wart? Vor­der­grün­dig wohnt sie in den man­nig­fal­ti­gen Gefah­ren des Jahr­hun­derts, allem vor­an im Kli­ma­wan­del und der Zer­stö­rung der natür­li­chen Umwelt, nicht min­der in den Unwäg­bar­kei­ten des digi­ta­len Wan­dels und der Insta­bi­li­tät einer glo­ba­len Wirt­schaft, die ihre Gewin­ne höchst ungleich ver­teilt. Auch die Aggres­si­on der Super­macht im fer­nen Osten und der Zuwachs mili­tan­ter reli­giö­ser Fun­da­men­ta­lis­men sind bedroh­lich. Die­se Gefah­ren selbst sind jedoch nicht die eigent­li­che Not, die unse­re Welt durch­wal­tet. Die eigent­li­che Not ist unse­re Unfä­hig­keit, die­sen Gefah­ren des Jahr­hun­derts ange­mes­sen zu begeg­nen. Ent­we­der wir igno­rie­ren sie oder wir sind voll und ganz auf sie fixiert – so sehr, dass die eigent­li­che Not ver­bor­gen bleibt; so sehr, dass sie hin­ter einem blin­den Fleck der kol­lek­ti­ven Trance ver­schwin­det. Die­se eigent­li­che Not ist eine Not des Denkens.

Wir ver­säu­men es, das Den­ken zu beden­ken. Dabei ist die Wei­se, wie wir den­ken, über­aus bedenk­lich. Unse­re Denk­wei­se ver­lei­tet uns dazu, uns in der Dürf­tig­keit der Gegen­wart bequem und wohn­lich ein­zu­rich­ten. Dabei fol­gen wir dem Men­schen­bild einer Psy­cho­lo­gie, die uns erklärt, wir sei­en Wesen der Bedürf­tig­keit, die ihre Lebens­en­er­gie dar­aus bezie­hen, fort­wäh­rend danach zu stre­ben, alle mög­li­chen Bedürf­nis­se zu stil­len. Des­halb haben wir die gro­ße, welt­um­span­nen­de Maschi­ne der Öko­no­mie erschaf­fen, die uns zuver­läs­sig alle Güter, Waren oder Diens­te her­stellt, derer zu bedür­fen, sie uns nahe­legt. Ohne es zu mer­ken, wer­den wir durch die Maschi­ne und das ihr zugrun­de lie­gen­de Den­ken trans­for­miert: Es macht uns zu Kon­su­men­ten, Bedürf­nis­be­frie­di­gern oder Ver­brau­chern, deren ‚Lebens­sinn‘ sich dar­auf redu­ziert, die Res­sour­cen die­ser Welt gedan­ken- und gefühl­los aufzubrauchen.

Die eigent­li­che Not ist die Gedan­ken­lo­sig­keit. Sie nötigt dazu, uns der Maschi­ne anzu­glei­chen. Doch je mehr wir die­ser Nöti­gung gehor­chen, des­to mehr ent­fer­nen wir uns davon, was die Not noch wen­den könn­te: vom Not­wen­di­gen. Was ist das Not­wen­di­ge? Es ist nicht der Bedarf. Es ist nicht etwas, des­sen wir bedür­fen. Viel­mehr ist es das, was unse­rer bedarf. Es ist das­je­ni­ge, was all das in uns weckt, was uns nicht Not tut, son­dern was uns ohne Not zu Men­schen macht: was uns erblü­hen lässt, was uns mit Sinn erfüllt, was uns das Leben und die Welt beja­hen lässt. Es ist das­je­ni­ge, was uns begeis­tert und beseelt – gera­de, weil wir es nicht brau­chen oder ver­brau­chen. Doch wie nen­nen wir die­ses Not­wen­di­ge, das hin­ter dem blin­den Fleck unse­rer Denk­ge­wohn­hei­ten ver­bor­gen ist? Da es sich durch sei­ne Wirk­sam­keit erschließt und die­se Wirk­sam­keit nichts ande­res ist als die Begeis­te­rung, nen­nen wir es Geist.

Die Not der Zeit ist ihr Man­gel an Geist. Die­se Not ist nur den wenigs­ten bewusst. Da wir nur für wert­voll hal­ten, was unse­re Bedürf­nis­se befrie­digt, bleibt der Geist meist unbe­dacht. Des­halb wal­tet die Gedan­ken­lo­sig­keit. Des­halb geben wir uns damit ab, als Kon­su­men­ten unse­re Zeit zu fris­ten. Des­halb lei­den wir nicht Not unter dem Man­gel an Begeis­te­rung. Des­halb glei­chen wir dem Frosch, der sich in sei­nem Topf so lan­ge an die stei­gen­de Tem­pe­ra­tur des Was­sers gewöhnt, bis er, ohne es zu mer­ken, gar gekocht ist. Unser Gar­topf ist die stän­dig wach­sen­de Maschi­ne der glo­ba­len Wirt­schaft. Und das Was­ser, das uns tötet, ist die Denk­wei­se, die in ihr mäch­tig ist: die die Wirk­lich­keit des Geis­tes leug­net, die Begeis­te­rung durch Funk­tio­na­li­tät ersetzt und die das Mensch­sein dar­auf redu­ziert, als Kon­su­ment zu funk­tio­nie­ren. Dass wir dies nicht mehr beden­ken, ist bedenk­lich. Dass wir uns des Den­kens ent­wöhnt und an das Feh­len des Geis­tes gewöhnt haben, ist die Not der Gegenwart.

Aber machen wir uns ein­mal klar, was in der Welt geschieht: wie mut­los und ideen­arm wir in der Covid-Pan­de­mie agie­ren, wie wenig wir die­se Kri­se als Chan­ce sehen, wie gefan­gen wir in kon­ven­tio­nel­len Denk­bah­nen selbst dann noch sind, wenn sie uns in die Sack­gas­se beför­dern. Kämen wir nur ein­mal zu Bewusst­sein, wir wür­den fest­stel­len, dass wir ganz und gar ent­geis­tert sind und uns von allen guten Geis­tern ver­las­sen fühlen.

Ihre guten Geis­ter nann­te frü­he­re Geschlech­ter Göt­ter. Ein­ge­denk des­sen ahnen wir nun, war­um Nova­lis in einem Essay von 1797 sagen konn­te: „Wo kei­ne Göt­ter sind, wal­ten Gespenster.“

Die Gespenster

In unse­ren Gewohn­hei­ten woh­nen Gespens­ter. Je gewohn­ter sie uns sind, des­to mehr ent­wöh­nen wir uns des Geis­tes. Je mehr sie uns mit dem ver­wöh­nen, des­sen wir zu bedür­fen glau­ben, des­to blin­der wer­den wir für das, was uns erfül­len könn­te. Je mehr wir uns an sie gewöh­nen, des­to mehr Macht geben wir ihnen. Die Gespens­ter­herr­schaft ist die Not der Gegen­wart, die umso grö­ßer ist, als wir nichts von ihr wissen.

Wer sind die Gespens­ter, die in unse­ren Köp­fen woh­nen? Ihre Namen klin­gen harm­los: Wol­len, Wis­sen, Machen, Nut­zen. Der ältes­te und mäch­tigs­te die­ser Dämo­nen ist Wol­len. Er beherrscht das Den­ken des moder­nen Men­schen. Ihm hul­di­gen wir fort­wäh­rend, denn wir sind der fes­ten Über­zeu­gung, unser Wol­len müs­se maß­geb­lich für unser Den­ken, Tun und Las­sen sein. So wie reli­giö­se Men­schen einst­mals glaub­ten, die Exis­tenz der Welt ver­dan­ke sich dem Wil­len eines Got­tes, so mei­nen wir, unser eige­nes Sein kraft unse­res Wil­lens gestal­ten zu können.

Dass der Wil­len in uns unse­re Iden­ti­tät bestimmt, behaup­te­te schon Kir­chen­va­ter Augus­ti­nus. Dass der Wil­len dar­auf ange­wie­sen ist zu wis­sen, weil er sonst ins Lee­re geht, ist eine neu­zeit­li­che Ein­sicht. Sie ermög­lich­te die ratio­na­le Wis­sen­schaft, die uns Sub­jek­ten in Aus­sicht stellt, das Wis­sen bereit­zu­stel­len, das wir brau­chen, um die Welt zu beherr­schen und unse­rem Wil­len zu unter­wer­fen. Mit Hil­fe des Wis­sens zum maît­re et pos­s­es­seur de la natu­re zu wer­den, war für den Phi­lo­so­phen René Des­car­tes Auf­trag und Adel des Men­schen. Damit rief er auch zwei ande­re Gespens­ter, die seit dem 17. Jahr­hun­dert in Euro­pa mäch­tig sind: Machen und Nut­zen – oder um zwei ande­re Namen für sie zu ver­wen­den. Homo Faber und Homo Oeco­no­mic­us.

Homo Faber ist der Mensch des Machens: der Tech­ni­ker und Inge­nieur. Ihm ver­dan­ken wir den uner­hör­ten Fort­schritt der letz­ten 300 Jah­re. Ihm ver­dan­ken wir jedoch zugleich die öko­lo­gi­sche Kri­se der Gegen­wart. Sein Meis­ter­stück ist es, die Welt grund­le­gend zu trans­for­mie­ren. Die leben­di­ge Natur wird in sei­nem Reich zu einer aus­zu­beu­ten­den Res­sour­ce. An ihr erprobt er sein Kön­nen. Er ver­schafft Wil­len und Wis­sen zwei Arme und zwei Hän­de, mit denen sie ihre Macht an und in der Welt bekun­den. Homo Faber schafft sich sei­ne Welt nach Maß­ga­be von Wil­len und gestützt auf Wis­sen.

Sein Bru­der Homo Oeco­no­mic­us macht sich die zur Res­sour­ce trans­for­mier­te Welt zunut­ze. Auch er ist ein Meis­ter der Ver­wand­lung, denn in sei­nem Reich wird alles zum Instru­ment im Dienst sei­ner Inter­es­sen. Er will sei­nen Vor­teil, um auf dem Markt­platz des Lebens zu reüs­sie­ren. Er will Macht, um sich gegen sei­ne Mit­be­wer­ber durch­zu­set­zen. Er will Wis­sen und Infor­ma­ti­on, um sei­nen Nut­zen fort­wäh­rend zu maximieren.

Wil­len, Wis­sen, Machen und Nut­zen haben die glo­ba­le Maschi­ne kon­stru­iert, in der wir, ohne es zu mer­ken, woh­nen. So sehr haben wir uns an sie gewöhnt, dass wir uns schon lan­ge nicht mehr dar­an stö­ren, guter Geis­ter zu ent­beh­ren. So sehr ver­wöh­nen sie uns bei der Befrie­di­gung unse­rer Bedürf­nis­se, dass wir die Not der Geist­lo­sig­keit nicht mehr spü­ren und das Not­wen­di­ge ver­ken­nen. So sehr haben sie uns der Erfül­lung ent­wöhnt, dass wir unse­re Ent­geis­te­rung für ganz gewöhn­lich hal­ten. Und so muss es uns nicht wun­dern, wenn sie sich in die­sen Tagen zusam­men­fin­den, um ein wei­te­res Gespenst zu kon­stru­ie­ren. Sei­nen Namen zu ent­hül­len, ist das Ver­dienst des Best­sel­ler-Autoren Juval Noah Hara­ri. Er hat ihn zum Titel eines Buches gemacht: Homo Deus.

Homo Deus ver­eint Wil­len, Wis­sen, Machen und Nut­zen zu Bestehen oder Dau­ern. Dem macht Homo Deus alles dienst­bar: sei­nem eige­nen Bestand, genau­er: sei­ner Unsterb­lich­keit. Sie, so Hara­ri, ist das letz­te, höchs­te Ziel des Homo Deus. Sie, so das Ver­spre­chen derer, die dem Homo Deus hul­di­gen, wird den Men­schen end­gül­tig von allen Nöten ret­ten. Denn was könn­te ihn gefähr­den, wenn der Tod bezwun­gen ist? Das wird aber nur gelin­gen, wenn der Homo Deus Wil­len, Wis­sen, Machen und Nut­zen in sei­nen Dienst nimmt. Sein Wil­len muss dar­auf gesam­melt sein, nicht bloß zu wis­sen, son­dern mit Hil­fe von Big Data und Künst­li­cher Intel­li­genz all­wis­send zu wer­den. Sein Machen muss dar­auf gerich­tet sein, mit Hil­fe avan­cier­ter Tech­no­lo­gien wie Gen­tech­nik, Bio­tec, oder Robo­tik all­mäch­tig zu wer­den. Sein Nut­zen muss dar­auf bedacht sein, die finan­zi­el­len Res­sour­cen zu erwirt­schaf­ten, die für den Kampf gegen den Tod benö­tigt wer­den. Wenn ihm das gelun­gen ist, dann wird Homo Deus an die Stel­le aller guten Geis­ter der Ver­gan­gen­heit getre­ten sein. Kei­ne Göt­ter wird der Mensch mehr nötig haben, denn er selbst ist zum Not­wen­di­gen gewor­den: zum Gott­men­schen und zum Retter.

Doch in Wahr­heit ist der Homo Deus nur ein mäch­ti­ges Gespenst, dem jede Kraft zur Ret­tung fehlt. Er ist nur der opti­mier­te Ungeist der Maschi­ne, der die Igno­ranz der Men­schen nutzt, um den Gar­topf zur leta­len Hit­ze anzu­hei­zen. Soll­te er sich durch­set­zen, droht uns die voll­stän­di­ge Ent­geis­te­rung. An die Stel­le wirk­li­cher Begeis­te­rung wer­den dann Mani­pu­la­ti­on, Kon­di­tio­nie­rung und Fana­ti­sie­rung tre­ten. Alles wird arti­fi­zi­ell, alles zum Pro­dukt. Dann ist die Not am größ­ten. Dann hilft nur noch eines. Mar­tin Heid­eg­ger hat es 1966 aus­ge­spro­chen: „Nur noch ein Gott kann uns retten.“

Das Wachsende

Wer ist der Gott, der uns noch ret­ten kann? Gewiss nicht der Gott, als des­sen Nach­fol­ger sich Homo Deus andient. Gewiss nicht der All­mäch­ti­ge, All­wis­sen­de, Unsterb­li­che. Die­ser Gott ist tot, wie Fried­rich Nietz­sche tref­fend sag­te. Nein, es ist ein ande­rer Gott, ein ande­rer Geist. Er ist das Gegen­teil der heu­ti­gen Gespens­ter: nicht Wil­len, son­dern Sein; nicht Wis­sen, son­dern Ver­ste­hen; nicht Machen, son­dern Schöp­fen; nicht Nut­zen, son­dern Kul­ti­vie­ren; nicht der Ungeist der Maschi­ne, son­dern der Geist der leben­di­gen Welt – der begeis­tern­de Geist, des­sen wir nicht bedür­fen und der uns gera­de des­halb wie nichts ande­res erfül­len kann.

Nie­mand kann den Geist, der uns begeis­tert, machen. Der Geist weht, wo er will. Er lässt sich nicht zwin­gen, son­dern er wächst. Er wächst und weht, wo wir ihn wach­sen oder wehen las­sen. Er wohnt nicht in unse­rem Wil­len, son­dern mit­ten in der Welt – genau­er: zwi­schen uns und der Welt, wie Mar­tin Buber sag­te. Wenn wir uns den Din­gen die­ser Welt im Ges­tus des Ver­ste­hens zuwen­den – wenn wir uns von ihnen ange­hen las­sen und auf das ach­ten, was sie uns zu sagen haben, dann erschließt sich uns die Dimen­si­on des Geis­tes und wir kön­nen aus ihm schöp­fen. Die­ses Schöp­fen ist kein Machen, wor­in sich ein Wil­len macht­voll bekun­det. Es ist ein Ant­wort-Geben auf das, was uns die Men­schen, Din­ge, Phä­no­me­ne die­ser Welt zu sagen haben. Es ist ein ver­ant­wort­li­ches Schöp­fen, das gebun­den bleibt an das, wor­auf es Ant­wort gibt. Es ist nicht ein Nut­zen, son­dern ein Kul­ti­vie­ren, das sich dem zuwen­det, was ist: es hegt und pflegt, so dass es sei­ne Anla­gen ent­fal­ten und erblü­hen kann. Das ist die Kul­tur­leis­tung des Geis­tes. Wo er weht, bezeugt er sei­ner Schöp­fer­kraft. Was er schöpft, ist kein Gewoll­tes und Gemach­tes, son­dern ein gewor­de­nes Gewächs – genährt von der Begeis­te­rung und Hin­ga­be ans Sein der Welt. Es ist nicht nütz­lich, aber sinn­voll. Es ist schön. „Schön­heit wird die Welt ret­ten“, sag­te Fjo­dor Dos­to­jew­ski.

Das Rettende

Schön­heit ret­tet, weil sie uns begeis­tert. Wer vom Schö­nen ange­spro­chen ist, ant­wor­tet mit einem unbe­ding­ten Ja: Ja, es ist gut. Ja, es ist sinn­voll. Die­ses Ja ist Aus­druck der Begeis­te­rung. Es ist nicht gemacht, son­dern gewach­sen: in der Begeg­nung mit dem Schö­nen, das vom Geist des Lebens zeugt und das in einer schöp­fe­ri­schen Begeg­nung mit dem Sein der Welt ent­stan­den ist. Höl­der­lin wuss­te das. Wo die Begeis­te­rung den Men­schen ergreift, so dich­tet er in sei­ner Ele­gie „Brot und Wein“, da „müs­sen Wor­te wie Blu­men ent­stehn“. So spricht der Dich­ter, aber alle Künst­ler wis­sen: Wo der Geist des Lebens sie ergreift und sie von ihm begeis­tert sind, reift ein schö­nes Werk in ihnen. Kunst ist nicht gemacht, son­dern sie wächst. Und also wächst das Rettende.

Aber wächst es wirk­lich? Wächst es auch in der Maschi­ne, die uns alle fest umklam­mert hält – so fest, dass wir die Gefahr, die uns bedroht, nicht mehr gewah­ren und die Not ver­ken­nen, die zu wen­den, uns der Geist gege­ben ist? Sind wir nicht blind für das Sein der leben­di­gen Welt? Und gip­felt die­se Blind­heit nicht in unse­rem Wil­len, das ältes­te Gesetz der Natur zu bre­chen: das Gesetz der End­lich­keit und Sterb­lich­keit? Selbst eine glo­ba­le Pan­de­mie scheint uns nicht aus der Trance zu wecken, in die uns das lei­se Sur­ren der Maschi­ne längst ver­setzt hat. Wir hören zwar von Tod und End­lich­keit, doch las­sen wir nicht zu, dass sie uns etwas sagen. Wir set­zen unse­re Hoff­nung auf Öko­no­mie und Tech­nik und ver­neh­men nicht den Ruf des Lebens, der uns aus dem mas­sen­haf­ten Ster­ben zuspricht, was der Gott Apol­lon einst den Rat­su­chen­den im Hei­lig­tum von Del­phi auf­trug: „Erken­ne dich selbst!“ Wir begrei­fen nicht, dass durch den Tod – die äußers­te Gefahr – der Geist des Lebens uns den Ret­tungs­an­ker zuwirft: ‚Du bist sterb­lich, Mensch‘, so ruft er uns sein freund­li­ches Memen­to Mori zu: ‚Du bist Teil der gro­ßen, ewi­gen Natur. Hal­te dich an sie und nicht an dei­nen Wil­len! Suche die Erfül­lung nicht in der Befrie­di­gung dei­ner Bedürf­nis­se, son­dern in Sinn und Schön­heit die­ser Welt! Trach­te nicht, ewig zu leben, son­dern zu Leb­zei­ten frei und leben­dig zu sein! Nicht dein machen­der Wil­le wird dich ret­ten, nicht dei­ne Tech­nik und kein Homo Deus. Ret­ten wird dich nur, was wächst: der Gott, der Geist des Lebens‘. Die­ser kaum gehör­te Zuspruch der glo­ba­len Pan­de­mie lässt uns ver­ste­hen, was Fried­rich Höl­der­lin ver­hieß: „Nah ist und schwer zu fas­sen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst das Ret­ten­de auch.“

*** Buch­tipp „Zu sein, zu leben, das ist genug. War­um wir Höl­der­lin brauchen”