Vorschlag: Einführung eines Europäischen Bürgerdienstes

Offe­ner Brief an die Vor­sit­zen­den von CDU/CSU, SPD, Bünd­nis 90/Die Grü­nen, FDP und Lin­ke sowie an den Prä­si­den­ten des Euro­päi­schen Parlamentes
Vor­schlag: Ein­füh­rung eines Euro­päi­schen Bürgerdienstes
Ich schrei­be die­se Zei­len als besorg­ter Bür­ger, der sich in einer kri­sen­ge­schüt­tel­ten Zeit mit­ver­ant­wort­lich weiß für das Wohl­erge­hen unse­res deut­schen und euro­päi­schen Gemein­we­sens. Mei­ne Pro­fes­si­on als frei­schaf­fen­der Phi­lo­soph führt dazu, dass ich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren zahl­rei­che Gesprä­che geführt habe, die sich mit der Fra­ge befass­ten, wie wir in Deutsch­land und Euro­pa den viel­fäl­ti­gen Her­aus­for­de­run­gen der Gegen­wart wer­den begeg­nen kön­nen. Der Vor­schlag, den ich Ihnen heu­te vor­le­gen möch­te, ist die Frucht die­ser Dis­kur­se. Ich wäre Ihnen sehr ver­bun­den, wenn Sie die­sen Vor­schlag ernst­lich prü­fen und sich gege­be­nen­falls zuei­gen machen wollten.
Vor­schlag zur Ein­füh­rung eines Euro­päi­schen Bürgerdienstes
Ich schla­ge vor, dass die Mit­glieds­staa­ten der Euro­päi­schen Uni­on für Ihre Bür­ge­rin­nen und Bür­ger einen ver­pflich­ten­den Euro­päi­schen Bür­ger­dienst ein­füh­ren: Jede® jun­ge Europäer(in) wird dazu ver­pflich­tet, ein Jahr lang dem euro­päi­schen Gemein­we­sen durch sozia­le, öko­lo­gi­sche oder ande­re zivi­le Auf­ga­ben zu die­nen. Der Dienst wird nicht im Her­kunfts­land, son­dern in einem ande­ren euro­päi­schen Land ver­rich­tet, ein ggf. erfor­der­li­cher Sprach­kurs wird den Bür­ger­dienst­leis­ten­den kos­ten­los ermög­licht. Teil des Bür­ger­diens­tes ist fer­ner ein Pflicht-Pro­gramm poli­ti­scher Bil­dung zu den zen­tra­len euro­päi­schen Wer­ten und Insti­tu­tio­nen. Mili­tär­dienst­leis­ten­de sind vom Bür­ger­dienst befreit. Alle ande­ren jun­gen Män­ner und Frau­en wer­den zu ihm ver­pflich­tet. Ver­pflich­tet wer­den eben­falls in Euro­pa leben­de Ein­wan­de­rer und aner­kann­te Flücht­lin­ge. Der Bür­ger­dienst kann nicht aus reli­giö­sen oder welt­an­schau­li­chen Grün­den ver­wei­gert wer­den. Er kann so orga­ni­siert wer­den, dass er die Rech­te auf freie Reli­gi­ons­aus­übung etc. nicht ein­schränkt. Wer dem euro­päi­schen Gemein­we­sen zuge­hört, wird für die Wer­te Euro­pas in Dienst genom­men. Zu erwä­gen wäre, Senio­ren nach Ende ihrer Berufs­tä­tig­keit dazu zu ermu­ti­gen, eben­falls den Bür­ger­dienst zu leisten.
Zur Begrün­dung sind fol­gen­de Argu­men­te zu nennen:

  1. Die ter­ro­ris­ti­sche Bedro­hung durch den „Isla­mi­schen Staat“ zeigt die Not­wen­dig­keit eines ver­bin­dend-ver­bind­li­chen euro­päi­schen Bür­ger­be­wusst­seins. Wir wer­den dem nach Euro­pa getra­ge­nen Ter­ror nur gewach­sen sein, wenn wir ihm als geschlos­se­nes Euro­pa mit einem kla­ren Bewusst­sein für die Euro­päi­schen Wer­te und Tra­di­tio­nen begegnen.
  2. Die ver­mut­lich zuneh­men­de Zuwan­de­rung nach Euro­pa nötigt das Euro­päi­sche Gemein­we­sen, sich sei­ner tra­gen­den Wer­te zu ver­ge­wis­sern und die­se als Bür­ger­tu­gen­den in der Gesell­schaft zu imple­men­tie­ren. Wer­te zu pro­kla­mie­ren allein genügt nicht. Wer­te müs­sen als Tugen­den gelebt wer­den. Tugen­den müs­sen ein­ge­übt und durch Pra­xis inkor­po­riert wer­den. Wenn z.B. ein jun­ger Grie­che ein Jahr lang in Irland in einer Pfle­ge­ein­rich­tung arbei­tet, wird er zugleich ein euro­päi­sches Bür­ger­be­wusst­sein ent­wi­ckeln und zen­tra­le Tugen­den der euro­päi­schen Kul­tur ausbilden.
  3. Der Dienst am Gemein­we­sen för­dert die Aus­bil­dung eines Gemein­sinns, der für den inne­ren Zusam­men­halt der Gesell­schaft not­tut. Noch ist es nicht lan­ge her, dass in Deutsch­land jun­ge Män­ner Wehr- oder Zivil­dienst leis­te­ten. Dies führ­te zu einem deut­lich stär­ke­ren Bewusst­sein poli­ti­scher Zuge­hö­rig­keit und Ver­ant­wor­tung als es bei den heu­ti­gen jun­gen Men­schen anzu­tref­fen ist. Jüngs­te demo­gra­phi­sche Erhe­bun­gen zei­gen, dass wir heu­te die unpo­li­tischs­te Stu­den­ten­ge­nera­ti­on seit dem 2. Welt­krieg in Deutsch­land haben. Dem zuneh­men­den Ego­is­mus und Nar­ziss­mus in unse­rer Gesell­schaft kann durch den Bür­ger­dienst kon­struk­tiv begeg­net werden.
  4. Für jun­ge Migran­ten bie­tet der euro­päi­sche Bür­ger­dienst eine vor­züg­li­che Chan­ce der Inte­gra­ti­on. Sie wer­den die euro­päi­schen Wer­te in Theo­rie und Pra­xis ken­nen­ler­nen, sie wer­den in euro­päi­scher Bür­ger­kun­de unter­wie­sen, sie wer­den aus dem Umfeld enger Par­al­lel­ge­sell­schaf­ten her­aus­ge­nom­men und auf die­se Wei­se auch mög­li­cher Radi­ka­li­sie­rung ent­zo­gen. Sie wer­den ande­re Sicht­wei­sen und Aus­prä­gun­gen der euro­päi­schen Kul­tur ken­nen­ler­nen. Man stel­le sich vor, die Atten­tä­ter von Paris wären durch den Euro­päi­schen Bür­ger­dienst dazu genö­tigt wor­den, ein Jahr lang gemein­sam mit jun­gen Män­nern und Frau­en aus ande­ren Län­dern öko­lo­gi­sche Pro­jek­te in Polen zu beglei­ten. Es wäre nicht unwahr­schein­lich, dass sie auf die­ser Wei­se der Indok­tri­na­ti­on ent­gan­gen wären und statt­des­sen ein euro­päi­sches Zuge­hö­rig­keits­ge­fühl ent­wi­ckelt hätten.
  5. In gesamt­eu­ro­päi­schen Kri­sen­si­tua­tio­nen wie dem Zustrom hun­dert­tau­sen­der Flücht­lin­ge in das ohne­hin gebeu­tel­te Grie­chen­land kön­nen Bür­ger­dienst­leis­ten­de schnell und unbü­ro­kra­tisch in betref­fen­de Kri­sen­ge­bie­te ver­legt wer­den, um dort mit erheb­li­cher Man­power die Kräf­te vor Ort zu unterstützen.
  6. Zum Aus­bil­dungs­pro­gramm der Bür­ger­dienst­leis­ten­den soll­te ein Kurs in Zivil­schutz gehö­ren, der die Men­schen befä­higt, in Fäl­len ter­ro­ris­ti­scher oder ande­rer Bedro­hung umsich­tig und sinn­voll zu han­deln. In Zei­ten neu­ar­ti­ger Bedro­hungs­sze­na­ri­en könn­te auf die­se Wei­se die Sicher­heit in Euro­pa erhöht werden.
  7. Die Begeg­nung mit jun­gen Men­schen aus ande­ren euro­päi­schen Län­dern dürf­te für die Bür­ger­dienst­leis­ten­den eine gute und prä­gen­de Erfah­rung sein, die ihnen schlech­ter­dings Spaß und Freu­de bereitet.
  8. Jun­ge Men­schen reagie­ren auf die Idee des Bür­ger­diens­tes posi­tiv. Es gibt in ihnen etwas, das in den Dienst des Gemein­we­sens genom­men wer­den möch­te. Lan­ge, frucht­lo­se Ori­en­tie­rungs­pha­sen nach Schu­len­de könn­ten durch eine sinn­vol­le Tätig­keit – auch im Diens­te der Selbst­fin­dung – ersetzt werden.
  9. Das Euro­päi­sche Gemein­we­sen und die Mit­glieds­staa­ten der Euro­päi­schen Uni­on haben eine hohe Ver­ant­wor­tung für sei­ne Bür­ge­rin­nen und Bür­ger. Die­se Ver­ant­wor­tung legi­ti­miert die Uni­on und sei­ne Mit­glieds­staa­ten, die inner­halb der Gren­zen der Euro­päi­schen Uni­on leben­den Men­schen zu einem Dienst an ihrem Gemein­we­sen zu ver­pflich­ten, sofern er im Diens­te der tra­gen­den Wer­te die­ses Gemein­we­sens steht.
  10. Die­nen ist eine Grund­qua­li­tät mensch­li­chen Lebens, die im Selbst­ver­ständ­nis unse­rer Gesell­schaft zu lan­ge zu wenig Beach­tung gefun­den hat. Der Bür­ger­dienst erscheint als pro­ba­tes Mit­tel, Nar­ziss­mus und Ego­is­mus einzudämmen.
  11. Bestehen­de Ein­rich­tun­gen wie das Frei­wil­li­ge Sozia­le Jahr eben­so wie der frü­he­re Zivil­dienst haben einen rei­chen Erfah­rungs­schatz her­vor­ge­bracht, auf den bei den finan­zi­el­len, logis­ti­schen und orga­ni­sa­to­ri­schen Her­aus­for­de­run­gen im Zuge der Ein­rich­tung und Ein­füh­rung des Bür­ger­diens­tes zurück­ge­grif­fen wer­den kann.
  12. Ange­sichts der dra­ma­ti­schen Zuspit­zung der Bedro­hung der euro­päi­schen Kul­tur wäre es poli­tisch ein bedeu­ten­des Sym­bol, wenn sich die Mit­glieds­staa­ten der Euro­päi­schen Uni­on dazu ent­schei­den könn­ten, einen sol­chen ein­fa­chen aber höchst effi­zi­en­ten Schritt in Rich­tung euro­päi­sches Bür­ger­be­wusst­sein zu wagen. Ein sol­cher Schritt wird glo­ba­le Auf­merk­sam­keit finden.

Mög­li­cher­wei­se ist es zu ambi­tio­niert, einen Bür­ger­dienst sogleich für alle Mit­glieds­staa­ten der Euro­päi­schen Uni­on vor­zu­schla­gen. Nach mei­nem Dafür­hal­ten wäre bereits eini­ges gewon­nen, wenn wir in Deutsch­land und eini­gen ande­ren, die­ser Idee auf­ge­schlos­se­nen Län­dern ein sol­ches Insti­tut eta­blie­ren wür­den. Dies­be­züg­lich wäre zu ermit­teln, ob der poli­ti­sche Wil­len für ein sol­ches Pro­jekt vor­han­den ist. Eben­falls zu prü­fen ist die Finan­zier­bar­keit der Idee. Ange­sichts des außer­or­dent­li­chen poli­ti­schen Gewinns, den das Pro­jekt ver­spricht, dürf­te die Finan­zie­rung jedoch kein unüber­wind­li­ches Hin­der­nis darstellen.
Erlau­ben Sie mir eine abschlie­ßen­de Bemer­kung: Mir scheint, dass es für die Zukunft und den Bestand Euro­pas wich­tig ist, in die­ser dra­ma­ti­schen Zeit ein deut­li­ches Signal der Bereit­schaft zur Ent­wick­lung zu set­zen. Mehr inne­re Sicher­heit und mili­tä­ri­sche Ein­sät­ze sind not­wen­dig, wer­den allein jedoch nicht dazu füh­ren, dass Euro­pa als poli­ti­sches Gemein­we­sen gestärkt aus die­ser bedroh­li­chen Zeit her­vor­geht. Letz­te­res aber soll­te das Ziel euro­päi­scher Poli­tik sein. Die euro­päi­sche Geschich­te lehrt, dass die­ser Kon­ti­nent wie­der­holt aus bedroh­li­chen Epo­chen erneu­ert her­vor­ge­gan­gen ist. Eine sol­che Erneue­rung ist 70 Jah­re nach Ende des 2. Welt­kriegs das Gebot der Stun­de. Die Ein­füh­rung eines Euro­päi­schen Bür­ger­diens­tes könn­te das Instru­ment einer sol­chen Erneue­rung sein. Den Mut dazu soll­ten wir aufbringen.
Ich dan­ke Ihnen für Ihre inter­es­sier­te Lek­tü­re. Als Urhe­ber die­ser Idee erhe­be ich kei­ne Ansprü­che, bie­te Ihnen jedoch an, für sie in Ihren Gre­mi­en oder in der Öffent­lich­keit zu wer­ben, sofern dies Ihr Wunsch sein soll­te. Dass mich eine zeit­na­he Reak­ti­on Ihrer­seits freu­en wür­de, ver­steht sich von selbst. Ger­ne blei­be ich im Gespräch mit Ihnen.
Mit freund­li­chem Gruß
Dr. Chris­toph Quarch, Ful­da 30.11.2015