VON DER SCHÖNHEIT DES BLEIBENS

Wir sind ständig in Bewegung, reisen hierin, reisen dorthin. Wieviel Lebenszeit verbringen wir im Auto, wieviel Stunden sitzen wir im Zug oder im Flugzeug! Und wenn wir nicht selbst leibhaftig in Bewegung sind, surfen wir im Internet und sind in virtuellen Welten unterwegs. Warum nur fällt es uns so schwer, an einem Ort zu bleiben? Woher nur dieser Widerstand dagegen, bei einer Sache – oder einem Menschen – zu verweilen? Warum nur diese Unrast?
Es gibt von Berthold Brecht ein passendes Gedicht. Es heißt ›Der Radwechsel‹ und endet mit den Zeilen: »Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. / Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre / Warum sehe ich den Radwechsel / mit Ungeduld?« Die Ungeduld, so legt der Dichter nahe, ist der Grund der Unrast, die uns moderne Menschen treibt. Die Ungeduld jedoch ist eine bittere Frucht der Unzufriedenheit. Wer nicht gern da ist, wo er herkommt, und genauso wenig dort verweilen möchte, wo die Reise hingeht, fühlt sich auch im Hier und Jetzt nicht wohl. Denn jene tiefquälende Unzufriedenheit verlässt ihn auch auf Reisen nicht. Beim Radwechsel – oder im Stau – dringt sie mit Macht ans Licht. Hier wird der eigentliche Grund unserer Mobilität erkennbar: Wir sind Getriebene der Unzufriedenheit. Und um sie nicht zu spüren, drehen wir uns immer schneller – bis die Spindel glüht.
Woher rührt diese Unzufriedenheit? Wovon wird sie befeuert? Sie wird befeuert von der Gier nach Neuem. Sie wird genährt vom Geiste des Konsums. Um uns zu fühlen, brauchen wir das flüchtig wohlige Gefühl, ein Ziel erreicht zu haben. Und dann erneut ein anderes Ziel. So sind wir ständig unterwegs von einer Glücksverheißung zu der nächsten – und opfern dafür unsere Zeit und Energie.
Wie wäre es, am Ort zu bleiben? Nicht davon zu laufen, immer auf der Flucht vor jener gut versteckten Unzufriedenheit? Wir könnten uns vertraut machen mit dem, was da ist. Wir könnten das, was da ist, kennenlernen und ergründen. Wir könnten in der Vertikale wachsen, wurzeln, walten – anstatt uns in der Horizontale zu verausgaben. Wir könnten in die Tiefe gehen und die Schätze, die das Leben für uns vergraben hat, erkunden – wir könnten auch zum Himmel schauen und uns rückbinden an jene Dimension, aus der allein dem Leben Sinn zufließt. Wir könnten mit den Menschen und den Dinge wirklich in Beziehung kommen; wir könnten ihren Eigenwert ermessen, der sich nicht nach unseren Bedürfnissen bemisst.
Das Leben ist Veränderung, daran besteht kein Zweifel. Doch wo das Leben wächst und reift, auch wo es heilt und zu sich kommt, braucht es eine treue Bleibe. Es muss geerdet sein, muss seine Wurzeln in die Erde senken. Für das Reich der Pflanzen gilt dies buchstäblich – metaphorisch gilt es auch für Tiere oder Menschen. Vögel bauen sich ein Nest, Nagetiere haben ihren Bau, Bären suchen ihr Höhle. Und die Menschenseele braucht den einen Ort, den sie zuhause nennt – einen Ort an dem sie bleiben kann, um sich zu erden und zu wurzeln; einen Ort, an dem sie sich verbunden mit dem Ganzen fühlt; einen Ort der Treue.
Treue ist die Tugend des Bleibens. Sie steht in unserer schnellen und mobilen Welt nicht hoch im Kurs. Wer die Treue hält, der bleibt bei Dingen und bei Menschen – auch, wenn sie ihm nicht von Nutzen sind. Denn die Treue liebt statt zu begehren. Sie schreckt nicht davor zurück, sich zu verbinden und Verbindlichkeiten einzugehen. Sie zieht ihre Stärke aus dem großen Netz des Lebens und sie bleibt auch, wenn es dunkel oder schmerzlich wird. Eben deshalb lässt sie Menschen wachsen. Seelengröße ohne Treue gibt es nicht. Nur wer bleibt, wird seine Anlagen entfalten. Nicht umsonst rief Nietzsche seinen Lesern zu: »Ich beschwöre euch, meine Brüder: Bleibt der Erde treu!«
(Der Text ist in der Zeitung für Geld und Geist »moneta« Ausgabe 2/2017 erschienen).
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