Die Sprache ist ein kostbares Gut. Sie bildet nicht nur die Wirklichkeit ab, sie erschafft sie. Worte erbauen, Worte verletzen, Worte begeistern. Das gilt vor allem da, wo Menschen miteinander umgehen. Die Sprache, die sie besprechen, bestimmt ihr Miteinander. Deshalb ist es wichtig, sorgfältig mit Worten umzugehen, auf denen unser soziales Miteinander gründet. Verantwortung ist so ein Wort. Und es schmerzt zu sehen, wie fahrlässig diejenigen mit ihm umgehen, deren Auftrag es ist, unser soziales Miteinander zu gestalten: die politische Elite in Berlin.
Fortwährend wird zur Verantwortung gerufen und gemahnt. Und mit jedem dieser Rufe verwässert dieses Wort mehr – bis dahin, dass es zur rhetorischen Waffe derer geworden ist, die mit seiner Hilfe ihre höchst eigenen Interessen durchsetzen wollen.
Verantwortung kommt von antworten. Ein verantwortlicher Mensch ist einer, der mit seiner Person auf den Anspruch antwortet, der an ihn ergeht: der nicht nur eine Antwort gibt, sondern eine Antwort ist; und der deshalb auch als Person zur Verantwortung gezogen werden kann, wenn er der Verantwortung nicht genügt, die er übernommen hat. Ein Mensch übernimmt Verantwortung, wenn er den Anspruch, der an ihn ergeht, annimmt. Dieser Anspruch kann eine Aufgabe sein, die ihm gegeben ist, es kann ein Amt sein oder eine Funktion. Es können aber auch die Kinder sein, die ihm geschenkt sind, es kann die Luft zum Atmen sein, das Land, das er bebaut. Sobald wir annehmen, was uns geschenkt oder gegeben (d.h. nicht gekauft und nicht erworben) ist, übernehmen wir dafür die Verantwortung – die Verantwortung, zu der wir gezogen werden können, wenn wir uns aus ihr stehlen d.h. verweigern, Antwort auf Angenommenes zu sein. Dann ist es Zeit, als Peron zur Rechenschaft gezogen zu werden von denen, die einen in Anspruch nahmen: denen, die uns ein Amt gaben, eine Funktion, eine Aufgabe, ein Geschenk.
Das vorausgeschickt, ist es möglich, ein wenig Licht in die Irrungen und Wirrungen der Berliner Politik zu bringen. Was kann es hier bedeuten, dass die Wortführer der Parteien bei Gesprächen zu einer Koalition ihrer Verantwortung genügen sollen?
Der Anspruch, der an die Politiker aller Parteien ergangen ist, ergibt sich aus dem Votum derer, die laut der Verfassung unseres Landes der Souverän sind: „Alle Gewalt geht vom Volke aus.“ Diesem Volk gegenüber – nicht „dem Staat“ – stehen die Führer der Parteien in der Verantwortung. Seiner Anrede müssen sie Antwort geben. Das setzt voraus, dass sie bereit sind zu hören, was das Volk sagt. Allein so, stiften sie ihre Zugehörigkeit zum Souverän – zum Volk. Dieser Zugehörigkeit verdankt sich ihre Legitimität.
Meist ist das Volk nichtssagend (was viele Politiker lieben und deshalb nichts dagegen haben, wenn es seine Sprachfähigkeit = Bildung oder Kultur einbüßt), doch am Wahltag spricht es. Daher ist das, was die Wahl sagt, für die Parteien bindend. Wer sich zur Wahl stellt, hat damit bereits die Verantwortung übernommen, dem Anspruch der Wähler Antwort zu sein.
Noch einmal: Um diesem Anspruch zu genügen, d.h. verantwortlich zu sein, gilt es zunächst zu hören, was die Wahl sagt – was sie sagt und nicht, was man selbst hören will. Dann beginnt das Verstehen; und zugleich die Gefahr des Missverstehens. Weil diese Gefahr immer droht, genügt der vom Wahlergebnis in Anspruch Genommene seiner Verantwortung, wenn er ungeachtet der Gefahr der Fehldeutung den Mut aufbringt, auf das ihm Gesagte Antwort zu sein. Nicht eine falsche Antwort zu geben, ist unverantwortlich, sondern keine Antwort zu geben – entweder, weil man nicht gehört hat oder weil man tatenlos bleibt.
Wenn eine Partei aufgrund ihres schlechten Ergebnisses sagt, „Wir haben verstanden“ und damit begründet, warum sie sich als Partner einer großen Koalition als abgewählt betrachtet, dann zeigt sie sich verantwortlich. Sie übernimmt Verantwortung vor dem Souverän und für ihre „Person“ (sei es in Gestalt ihrer faktischen Regierungstätigkeit, sei es in Gestalt ihres Wahlprogramms). Ein solches Verhalten ist verantwortungsvoll.
Wenn eine Partei Sondierungsgespräche für eine mögliche Koalition führt und diese Gespräche beendet, weil sie nicht bereit ist, ihre „Person“ (in Gestalt ihres Wahlprogramms) zu verleugnen, bekundet auch sie Verantwortung. Sie darf mit Recht darauf verweisen, dass sich der Anspruch, der an sie ergangen ist (d.h. ihr Wahlergebnis), seinerseits als Antwort auf ihr Programm lesen lässt und dass sie deshalb ihren Wählern gegenüber in der Verantwortung steht, diesem Programm zu genügen. Sofern die Parteiführung erkennt, dass sie diesem Anspruch nicht genügen kann, wenn sie eine Jamaika-Koalition eingeht, genügt sie ihrer Verantwortung. Denn ihre Verantwortung ist es nicht, eine Regierung zu bilden, sondern ihr vom Wähler unterstütztes Programm zu verfolgen. Für eine Regierungsbildung hat nicht sie das Mandat.
Das Mandat zur Regierungsbildung hat die Partei, die vom Souverän die meisten Stimmen bekommen hat. Sie – und zwar sie allein – steht gegenüber dem Souverän in der Verantwortung, eine Regierung zu bilden und Koalitionsgespräche zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Diese Verantwortung ist der Preis, den sie für die ihr vom Volk gewährte von ihr willig entgegengenommene Macht zu entrichten hat. Mit dieser Macht gilt es verantwortungsvoll umzugehen. Und das bedeutet zunächst zu hören, was der Souverän zugleich mit dem Mandat zur Regierungsbildung zu sagen hatte: das schlechteste Wahlergebnis, das diese Partei je hatte. Wer Ohren hat zu hören, der hört: „Nicht mehr so weiter wie bisher. Es soll anders werden.“ Das Wahlergebnis sagt: „Bildet eine Regierung, aber ändert euch. Wir wollen, dass ihr andere an der euch gegebenen Macht teilhaben lasst.“
Sich diesem Anspruch verantwortlich zu zeigen – verantwortliche Politik zu machen – hätte bedeutet, als stärkste Kraft und Verhandlungsführerin die Gespräche über eine Jamaika-Koalition zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Der Mächtigste musste darin die größten Abstriche machen, zumal er die meisten Stimmen verloren hat. Dem hat er sich offenbar verweigert. Die Verantwortung für die entstandene Misere liegt deshalb bei der CDU/CSU, namentlich bei Angela Merkel. Sie ignoriert nicht nur das Wählervotum und erweist sich darin als verantwortungslos, sie genügt auch nicht der Verantwortung, die sie von Staats wegen trägt: der Verantwortung als Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland diesem Staat eine Regierung zu geben. Denn sie ist wie niemand sonst qua Amtes als Kanzlerin und Regierungschefin dem „Staate“ verantwortlich, während die Parteien bei der Antwort auf ein Wahlergebnis dem Souverän gegenüber in der Verantwortung stehen.
Doch statt ihrer Verantwortung zu genügen, versucht die Kanzlerin, sie an den Bundespräsidenten zu delegieren und sich so aus ihrer Verantwortung zu stehlen – so wie sie sich aus der Verantwortung für das Scheitern der Jamaika-Gespräche gestohlen und sie fahrlässig der FDP zugespielt hat, so wie sie sich aus der Verantwortung für das Wahlergebnis gestohlen hat und sich und der Welt den Irrtum einredet, sie ein Mandat zum Weiter-So erhalten.
Eine Kanzlerin, die ihrer Verantwortung weder gegenüber dem Staat noch gegenüber dem Volk zu genügen vermag, sollte letzteres davon verschonen, ihm weitere vier Jahre „dienen“ zu wollen. Sie hat vielmehr nun die Verantwortung für ihren Politikstil der Alternativlosigkeit zu übernehmen – eines Nicht-Politik-Stils, dessen Virtuosität darin liegt, Situationen zu erzeugen, aus denen es nur einen Ausweg zu geben scheint; was an sich nicht wahr ist, denn Politik ist eben keine Sozial-Physik, bei der Kontingenzen auszuschließen wären. Im Politischen gibt immer eine zweite Option. So hat Frau Merkel auch jetzt noch die Chance, ihrer Verantwortung zu genügen und auf die gegebenen Fakten eine couragierte Antwort zu sein: indem sie den Weg frei macht für eine neue, verantwortungsbewusste Politik in Deutschland.
Nachtrag: Eine Partei, die einen Bundesminister stellt, der die augenblickliche Situation nutzt, um entgegen den Absprachen innerhalb der Regierung eigenmächtig dem Massenvernichtungsmittel Glyphosat die Zulassung in Europa zu gewähren, sollte nie wieder das Wort Verantwortung in den Mund nehmen. Wer solches als Agrarminister tut, tritt seine Verantwortung vor der Natur, vor den Menschen, vor dem Koalitionspartner mit Füßen. Ihn aus der Regierung zu entlassen, wäre verantwortungsvoll.
Nachtrag: Eine Fraktionsvorsitzende, die sich bemüßigt sieht, eine Fäkalsprache in die Politik einzuführen und sich in Formulierungen wie „auf die Fresse“ und „Kacke“ gefällt, tritt ihre Verantwortung für das kostbarste aller Güter mit Füßen: die Sprache. Einer SPD, die sich am Wahlabend verantwortungsvoll zeigte, würde heute ihrer Verantwortung genügen, indem sie nicht nur einer neuerlichen Regierung Merkel eine Absage erteilt, sondern auch Frau Nahles den Rücktritt nahelegt.
Christoph Quarch, Fulda 28.11.2017