Unser Gemeinwesen braucht Kultur

„Institutionen und Einrichtungen, die der Freizeitgestaltung zuzuordnen sind, werden geschlossen“ und „Unterhaltungsveranstaltungen werden untersagt.“ Darüber, was damit gemeint ist, ließ Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Ausrufung des November-Lockdowns am 28. Oktober 2020 keinen Zweifel: an erster Stelle „Theater, Opern, Konzerthäuser, und ähnliche Einrichtungen“ – ganz so wie es auch der Beschluss der Videokonferenz der Kanzlerin und der Länderchefs ausweist.

Und im gleichen Atemzug nannte sie: „Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen sowie Prostitutionsstätten, Bordelle und ähnliche Einrichtungen“. Damit dürfte auch dem letzten klar sein, welchen Stellenwert das Geistes- und Kulturleben in den Augen der deutschen Politik derzeit hat: Keinen. Es dient der Unterhaltung bzw. der Freizeitgestaltung.

So zu denken, ist gefährlich. Es wird nicht nur mittelfristig die ökonomische Existenz Tausender Kulturschaffender und Kulturveranstalter vernichten, sondern auch langfristig der Kulturlandschaft unseres Landes schaden – eines Landes, das vormals als „Land der Dichter und Denker“ gerühmt wurde.

Wohin die politisch forcierte Erosion des Kulturlebens führt, lässt sich live und in Farbe in den Vereinigten Staaten von Amerika beobachten, die – wie man sagt – Europa in vielem um Jahre voraus sind. Es steht zu befürchten, dies könnte auch für den Niedergang der politischen Kultur zutreffen.

Kultur ist mehr als ein Konsumgut

Es ist ein verhängnisvolles Missverständnis, Kultur als Produkt der Unterhaltungsindustrie bzw. als verzichtbares Konsumgut für die Freizeitgestaltung abzutun. Mag das vielleicht für manche Kulturveranstaltungen zutreffen, die dem unseligen Trend der Konvertierung von begeisternder Kultur in vermarktbare Events erlegen sind, so kann im Blick auf das Gros von „Theatern, Opern, Konzerthäusern, und ähnlichen Einrichtungen“ keineswegs davon die Rede sein – ebenso wenig wie im Blick auf Volkshochschulen oder Akademien, deren Vortragssäle ebenfalls geschlossen sind.

Tatsächlich leisten die Kulturschaffenden einen für den Bestand eines demokratischen Gemeinwesens unverzichtbaren Beitrag. Vormals nannte man ihn „Bildung“, heute würde man ihn vielleicht als Entfaltung des geistigen Potenzials beschreiben. Egal ob ein Rockkonzert oder ein klassisches Ballett, egal ob eine Kunstausstellung oder ein Hinterhoftheater: Jede kulturelle Aktivität weitet den geistigen Horizont von Zuschauern und Akteuren.

Weil Kultur immer Manifestation des menschlichen Geistes ist, vermag sie Menschen zu begeistern, ihre Kreativität und Schaffensfreude anzuregen, ihre Urteilskraft zu stärken, ihnen Mut und Trost zu spenden: Alles Qualitäten, ohne die eine demokratische, freie Gesellschaft nicht bestehen kann. Alles Qualitäten, deren Kultivierung mit der Begründung, einen „Gesundheitsnotstand“ vermeiden zu müssen, nunmehr ausgesetzt wird.

Es gibt auch eine geistige Gesundheit

Gesundheit scheint in den Augen der Naturwissenschaftlerin Angela Merkel ausschließlich mit physisch-messbaren Befunden zu tun zu haben. Dass ein Verbot der Kulturausübung die geistige und psychische Gesundheit unseres Gemeinwesens zerrütten könnte, scheint ihr nicht in den Sinn zu kommen. Das ist ein verstörendes Symptom einer eindimensional technisch-funktionalen Denkweise, die vom bereits fortgeschrittenen Kulturverlust unserer Gesellschaft zeugt.

Dass für die Resilienz und Krisenfestigkeit eines Gemeinwesens gerade das Kulturleben von größter Bedeutung ist, lehren dabei nicht nur Immunologen, Neurophysiologen und ganzheitlich denkende Menschen, sondern auch die Geschichtsschreibung. Es ist bezeugt, dass viele Inhaftierte in den Konzentrationslagern der Nazis nur deshalb überleben konnten, weil sie zusammen (!) musizierten, sangen und Theater spielten. Alles Praktiken, die von Frau Merkel und den Ministerpräsidenten verboten und als Akt der Freizeitgestaltung bezeichnet wurden.

Wie soll es da den Kulturschaffenden gehen? Zwar wird ihnen wiederholt versichert, man wolle sie nicht hängenlassen, doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Sprache verrät es: Man werde eine Nothilfe in Höhe von 5000 Euro pro Person „gewähren“, verkündete ein Bundeswirtschaftsminister, der seit Monaten Milliardenbeträge in die Wirtschaft pumpt, um dort am Ende doch nur eine Flut von Insolvenzen zu verschleppen. Einmalig 5000 Euro, das ist die öffentliche Wertschätzung für Kulturschaffende!

Wie aber sollen Menschen, die seit Monaten ihre Arbeit nicht ausüben dürfen, damit über den Winter kommen – zumal dann, wenn sie eine Familie zu ernähren haben; Menschen, die seit Jahren sogar von öffentlichen Kultureinrichtungen in die Selbstständigkeit gedrängt wurden und nun von an diese adressierten Subventionen nichts abbekommen; Menschen, die seit langem schon zu Hungerlöhnen arbeiten und ganz sicher keine Rücklagen haben? Und die trotzdem für unser Gemeinwesen unverzichtbar wichtig sind!

Wer hat die bessere Lobby?

Ja, wie soll es Kulturschaffenden gehen, wenn sie erfahren, dass zwar Vortragssäle, Konzerthallen und Theater schließen müssen, Kirchen aber für Gottesdienste offenbleiben? Gewiss heißt es in Artikel 4 des Grundgesetzes: „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet“. Ebenso gewiss aber heißt es in Artikel 5, Abs. 3: „Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“.

Warum darf in Kirchen, die nachweislich Infektionsherde waren, Gottesdienst gehalten werden, während in einer Volkshochschule ein wissenschaftlicher Vortrag untersagt wird? Die Antwort kann nur eine sein: Die Kirchen haben in Berlin die bessere Lobby als die Kulturschaffenden. Kein Zufall jedenfalls, dass der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz am 28. Oktober 2020 der erste war, der sich bei Frau Merkel für den neuen Lockdown bedankte.

Es muss etwas geschehen. Wenn man jenseits von Technik, Ökonomie und Intensivmedizin der Pandemie auf sinnvolle Weise begegnen möchte, dann gibt es dafür keinen besseren Weg als den, der bislang nicht eingeschlagen wurde: die Krise nutzen für dringend erforderliche Systemumstellungen – nicht nur solche, die für den Erhalt der natürlichen Umwelt und den Umbau der Ökonomie geboten sind, sondern auch solche, die wir für den Erhalt der geistig-kulturellen Fundamente unsres Gemeinwesens benötigen. Dafür braucht es couragiertes Denken und realisierbare Vorschläge. Zum Beispiel diesen:

Bedingungsloses Grundeinkommen für Kulturschaffende

Mit einmaligen „Nothilfen“ für einzelne Kulturschaffende wird unsere Kulturlandschaft auf Dauer nicht zu retten sein. Es braucht ein grundlegend neues Fundament für Kultur und Bildung: ein bedingungsloses Grundeinkommen für selbständige Künstler und Geistesarbeiter, finanziert durch eine Kultursteuer, die nach dem Vorbild von EU-Ländern wie Spanien, Italien und Ungarn – bei gleichem Steuersatz – an die Stelle der Kirchensteuer tritt.

Dabei steht es dem Steuerzahler frei, seine Abgabe weiterhin einer Religionsgemeinschaft zukommen zu lassen, er könnte aber ebenso gut freie kulturelle Einrichtungen, Vereine etc. begünstigen. Man spricht in diesem Fall von einer „Mandatssteuer“, der man sich – anders als bei den Kirchensteuern – nicht durch Austritt entziehen kann und die zu einer deutlich gerechteren Verteilung von Lasten und Geldern in der Gesellschaft führen würde: ein echter Akt der Solidarität, die auf diese Weise aus den Sonntagsreden der Politiker in die harte Wirklichkeit der Menschen übersetzt werden könnte.

Unsere Gesellschaft braucht Kultur und Geist. Sie sind das Fundament unserer Demokratie, die sie selbst nicht generieren, auch nicht kaufen oder ökonomisch produzieren kann. Kultur und Geist brauchen dringend eine ihrer hohen Bedeutung angemessene Organisationsform. Daran jetzt zu arbeiten, wäre die richtige Antwort auf die Pandemie. Immer nur neue Verordnungen und Verbote sind es nicht.

Veröffentlicht im netzwerk ethik heute