Und jeder Krise wohnen Chancen inne

Wer leben­dig sein will, darf sich dem Wan­del nicht verschließen

„Kri­se ist ein pro­duk­ti­ver Zustand. Man muss ihr nur den Bei­geschmack der Kata­stro­phe neh­men.“ (Max Frisch)

Experiment

Bei sei­nen denk­wür­di­gen Vor­trä­gen zur Quan­ten­me­cha­nik pfleg­te der gro­ße Phy­si­ker Hans-Peter Dürr (1929–2014) immer das glei­che Expe­ri­ment vor­zu­füh­ren: Er zeig­te sei­nem Audi­to­ri­um einen am Tisch befes­tig­ten Stab, den er wie einen Uhr­zei­ger senk­recht in die Posi­ti­on der Zwölf brin­gen und dort jus­tie­ren konn­te. Lös­te er die Jus­tie­rung neig­te sich der Stab ent­we­der im Uhr­zei­ger­sinn zur Rech­ten oder gegen den Uhr­zei­ger­sinn zur Lin­ken – mal so, mal so. Es ließ sich nicht vor­her­sa­gen. Zumin­dest nicht für einen Lai­en. Man hät­te ein Glücks­spiel dar­aus machen kön­nen – das aller­dings durch einen Phy­sik­pro­fi unter Labor­be­din­gun­gen an Reiz ver­lie­ren wür­de, da unter Zuhil­fe­nah­me von Daten bezüg­lich Luft­zir­ku­la­ti­on im Raum, Luft­druck etc. eine Wahr­schein­lich­keits­an­nah­me ermit­tel­bar wäre. So jeden­falls für das ein­fa­che Pen­del, mit dem Dürr sein Expe­ri­ment begann.

Dann aber folg­te der zwei­te Akt des Pro­fes­sors, der sei­ne Kar­rie­re einst als Assis­tent bei Wer­ner Hei­sen­berg begon­nen hat­te; und die­ser Akt hat­te das Zeug, die Zuhö­rer an den Rand des Wahn­sinns zu trei­ben. Das Dürr­sche Pen­del war näm­lich bei nähe­rer Betrach­tung nicht ein Stab, son­dern es bestand aus drei Ele­men­ten, die durch Schar­nie­re ver­bun­den, ansons­ten aber frei beweg­lich waren. Beim ers­ten Akt waren die Schar­nie­re noch fixiert, sodass sie tat­säch­lich einen star­ren Stab bil­de­ten. Für den zwei­ten Akt aber lös­te Dürr die Schar­nie­re gleich­zei­tig mit der Jus­tie­rung am Tisch. Das Ergeb­nis: die nun ent­stan­de­nen drei Pen­del führ­ten einen Tanz auf, den nie­mand – auch nicht ein glo­ba­les Netz­werk von Super­com­pu­tern mit den klügs­ten Algo­rith­men – je berech­nen könn­te. Was geschah hier?

Dürr offen­bar­te einen Blick in den ver­bor­ge­nen Grund der Natur: in die geheim­nis­vol­le Welt der nack­ten Poten­zia­li­tät, der abso­lu­ten Mög­lich­keit, in die kein Rech­nen, kei­ne Logik und kein Den­ken vor­dringt – ganz ein­fach, weil in ihr nichts wirk­lich, aber alles mög­lich ist. Die Welt der nack­ten Mög­lich­keit ist unbe­greif­bar und unfass­bar, sie allen­falls beob­acht­bar. Und trotz­dem ist sie Teil der Wirk­lich­keit – und damit Teil der Natur und unser aller Leben. Meist schlum­mert sie im Unge­dach­ten und Unaus­denk­ba­ren. Doch manch­mal – manch­mal tritt sie an die Ober­flä­che eines Men­schen­le­bens. Dann spre­chen wir von einer Kri­se.

Brüche

Wenn man ver­ste­hen will, was eine Kri­se ist, braucht man nur an Dürrs Expe­ri­ment zu den­ken. Kri­se, das ist der Zustand des von allen Fixie­run­gen, Sta­bi­li­sie­run­gen oder Jus­tie­run­gen befrei­ten und gelös­ten Drei-Modul-Stabs in dem Augen­blick, bevor der Tanz beginnt. Es ist der Zustand, in dem eine bewähr­te Ord­nung auf­ge­löst ist, die gewohn­te Sta­bi­li­tät und Sicher­heit mit all ihrer Ver­läss­lich­keit nicht mehr besteht. Es ist der Moment, in dem alles in Fluss gerät – und das mit einem völ­lig unge­wis­sen Aus­gang; völ­lig unge­wiss außer dem einen: dass irgend­wann der Tanz getanzt, das Poten­zi­al erschöpft und die Sta­bi­li­tät wie­der­her­ge­stellt sein wird. Das frei­lich wäre dann der Tod, den man nicht zufäl­lig das ein­zig Siche­re genannt hat.

Doch bis das Drei­fach-Pen­del und ruht, ist alles mög­lich. Und eben­so ist alles mög­lich, bis wir ster­ben. Denn Men­schen sind weit­aus kom­ple­xe­re Sys­te­me als ein Stab aus drei Modu­len. Selbst wenn wir zuwei­len eben­so bere­chen­bar erschei­nen wie der „Ein­fach­stab“, nach­dem er die Grund­satz­ent­schei­dung von „rechts oder links“ getrof­fen hat. Das aber nur, wenn wir fixiert und starr gewor­den sind. Was aber kei­nes­wegs so sein muss. Denn anders als ein Pen­del kön­nen Men­schen immer wie­der anders, wenn sie es nur wol­len. Unser Gehirn und unser gan­zer Orga­nis­mus sind dafür geschaf­fen, Neu­es zu erler­nen, Neu­es anzu­fan­gen, Neu­es zu erpro­ben. Die Plas­ti­zi­tät des mensch­li­chen Gehirns legt uns nicht dar­auf fest, ein bestimm­tes gene­ti­sches Pro­gramm abzu­spu­len und auf eine bere­chen­ba­re Wei­se zu pen­deln, bis dass der Tod uns heim­sucht. Nein, wir sind kein bio­che­mi­scher Algo­rith­mus, wie man uns neu­er­dings weiß­ma­chen möch­te (Juval Hara­ri, Homo Deus); wir sind nicht hoch­kom­ple­xe, aber gleich­wohl bere­chen­ba­re Bio-Maschi­nen. In Wahr­heit sind wir wan­deln­de Kri­sen: fra­gi­le Ord­nun­gen, die auf einem dün­nen Eis tan­zen, unter dem das Cha­os gähnt. Und das ist nicht das Schlech­tes­te, was man von Men­schen sagen kann. Warum?

Unser Wort Kri­se lei­tet sich her vom grie­chi­schen Wort krí­sis. In den ein­schlä­gi­gen Wör­ter­bü­chern wird es mit „Ent­schei­dung“, „Tren­nung, „Kampf“ oder „Urteil“ über­setzt. Ver­folgt man sei­ne Her­kunft aber wei­ter zurück in die frü­he indo-euro­päi­sche Sprach­ge­schich­te, erfährt man, dass es ursprüng­lich so viel bedeu­te­te wie Dach­first. So gese­hen müss­ten wir eigent­lich sagen, wir ste­hen auf einer Kri­se und nicht in einer Kri­se. So wie man eben auf einem Dach­first steht und ganz wie das Dürr­sche Pen­del nur zwei Mög­lich­kei­ten hat: rechts run­ter oder links run­ter; und dabei kei­ne Ahnung, was einen jeweils erwar­tet – und kei­nen Anhalts­punkt dafür, was wohl die bes­se­re Opti­on zu sein ver­spricht – und kei­ne Erfah­rungs­wer­te, die einem den rech­ten Weg zu wei­sen wüss­ten. In einem sol­chen Zustand kann man dann schon mal die Kri­se krie­gen. Und mit der Kri­se kommt die Angst – die Angst, die immer lau­ert, wo wir vor dem Unge­wis­sen ste­hen und die übli­chen Sicher­hei­ten, Jus­tie­run­gen, Fixie­run­gen, Sta­bi­li­sie­run­gen weg sind.

So jeden­falls könn­te man beschrei­ben, was wir Kri­se nen­nen. Es han­delt sich dabei zumeist um Situa­tio­nen, die uns Angst machen, weil wir in ihnen nicht mehr wei­ter­wis­sen. Und meis­tens mischt sich in die Kri­se als wei­te­res Ingre­di­enz die Trau­er über das Ver­schwin­den oder den Zusam­men­bruch des Wohl­ver­trau­ten. Das kann etwa dann der Fall sein, wenn der Kör­per, der uns stets ein treu­er Die­ner und Gefähr­te war, auf ein­mal nicht mehr mit­macht – eine Krank­heit uns befällt, die uns dazu zwingt, unse­re bis­he­ri­gen Lebens­ge­wohn­hei­ten auf­zu­ge­ben. Oder es kann der Fall sein, wenn wir unse­re Arbeit und mit ihr unser Selbst­ver­ständ­nis und Selbst­wert­ge­fühl ver­lie­ren. Es kann auch der Fall sein, wenn das Ver­trau­en in die Men­schen schwin­det, die wir lie­ben – wenn eine Bezie­hung schei­tert oder unser Herz gebro­chen ist. Vor allem ist es dann der Fall, wenn unse­re Deu­tungs­sys­te­me schei­tern: wenn wir uns kei­nen Reim mehr dar­auf machen kön­nen, was mit uns und um uns geschieht; wenn wir kei­nen Sinn mehr erken­nen kön­nen; wenn wir gleich­sam vor dem Nichts ste­hen, sich die Kom­pass­na­del dreht und wir weder ein noch aus wis­sen. Dann ist die Kri­se nicht mehr weg­zu­re­den. Und dann gibt es tief in uns nur noch den einen Wunsch: Es muss anders wer­den, und zwar schnell.

Und damit wären wir beim ande­ren Gesicht der Kri­se: Gewiss, sie schmerzt und macht uns Angst, weil das Ver­trau­te, Siche­re, Ver­läss­li­che ver­lo­ren ist. Doch gleich­zei­tig erschließt sie unge­ahn­te Mög­lich­kei­ten. Im Hin­ter­grund der Kri­se – dort, wo wir nichts ahnen und erken­nen kön­nen – schlum­mern neue Wege, uner­forsch­te Mög­lich­kei­ten, die wir nie erschlie­ßen wür­den, wäre der Zusam­men­bruch des Alten nicht auch immer eine Ein­la­dung zum Auf­bruch in das unbe­kann­te Neue. So steckt in jeder Kapi­tu­la­ti­on zugleich die Stun­de Null, die unge­ahn­te Chan­cen birgt.

Im Chi­ne­si­schen kann das Schrift­zei­chen für „Kri­se“ eben­falls mit „Chan­ce“ über­setz­bar wer­den. „Not macht erfin­de­risch“, weiß auch bei uns der Volks­mund – und mit Recht, denn wenn es auch zu einer jeden Kri­sen unbe­dingt dazu­ge­hört, dass sie uns ängs­tigt und bedrückt, so haben wir gleich­wohl die Mög­lich­keit, selbst zu ent­schei­den, wie wir uns zu ihr ver­hal­ten wol­len. Wir kön­nen sie als Kata­stro­phe wer­ten und uns selbst bemit­lei­den, in Gram ver­hül­len oder ande­ren die Schuld für unser Unglück geben. Wir kön­nen aber auch die Trä­nen trock­nen und die Angst besie­gen, um aus einer Kri­se eine Chan­ce zum Neu­be­ginn zu machen.

Es liegt an uns, ob wir die Kri­se nur als den Zusam­men­bruch des Alten und Ver­trau­ten oder ob wir dar­in auch die Ein­la­dung zum Auf­bruch sehen. So wie Alexis Zor­bas, jener wun­der­ba­re Titel­held eines Romans von Nikos Kazant­zakis, der – in der berühm­ten Ver­fil­mung von Antho­ny Quinn gespielt – den tota­len Zusam­men­bruch der von ihm gebau­ten Seil­bahn, auf der alle Hoff­nun­gen sei­nes Auf­trag­ge­bers ruh­ten, mit den legen­dä­ren Wor­ten kom­men­tiert: „Boss, hast du jemals etwa so schön zusam­men­kra­chen gese­hen?“ Von die­sem Zor­bas kann man etwas über der Meis­ter­schaft Kri­sen­ma­nage­ments erler­nen. Sie zeigt sich dar­in, dass die Kri­se als Chan­ce zum Auf­bruch in ein neu­es Leben gedeu­tet wird; was denn auch tat­säch­lich geschieht, denn der Film zeigt, dass Zor­bas und sein Boss am Ende der Geschich­te mit­ein­an­der den Sir­ta­ki tan­zen: als Zei­chen dafür, dass sie frei gewor­den sind, ein neu­es und ech­te­res Leben zu begin­nen. Ganz im Sin­ne eines ande­ren gro­ßen Autors, der ein schö­nes Wort zum The­ma Kri­se fand: Max Frisch. Er notier­te: „Kri­se ist ein pro­duk­ti­ver Zustand. Man muss ihr nur den Bei­geschmack der Kata­stro­phe nehmen.“

Gewiss, man könn­te ein­wen­den, dass es Poe­ten oder Lite­ra­ten sind, die hier als Zeu­gen in den Zeu­gen­stand geru­fen wur­den. Man könn­te sagen, dass die Kri­se, die zugleich auch Chan­ce ist, wohl für Roma­ne taugt, nicht aber für das wirk­li­che, geleb­te Leben. Tat­säch­lich aber lie­gen Dich­tung und Wahr­heit in die­sem Fal­le nicht weit aus­ein­an­der. Denn das Leben eines jeden Men­schen ist – wenn er nur dar­auf acht­zu­ge­ben wagt – vol­ler Bei­spie­le dafür, dass sich Kri­sen rück­bli­ckend als Chan­cen ent­pupp­ten; auch – viel­leicht sogar gera­de – dann, wenn sie auf den ers­ten Blick nicht danach aus­sa­hen. Und das ist nicht nur im Leben eines Men­schen so. Es gilt auch für Unter­neh­men. Ja, man könn­te Unter­neh­mer­tum nach­ge­ra­de als eine mensch­li­che Eigen­schaft beschrei­ben, die sich dar­in bewährt, das Poten­zi­al in Kri­sen zu erken­nen und die Chan­cen, die sie öff­nen, sinn­voll zu ergreifen.

Leben

Der Blick in die His­to­rie lehrt: Geschich­ten, die das Leben schreibt, sind immer auch Geschich­ten vol­ler Kri­sen. Der Grund dafür ist rasch genannt: Kri­sen sind Bestand­teil der Natur. Es gibt kein Leben ohne Kri­sen. Nicht, weil das Leben so chao­tisch und die Men­schen so feh­ler­haft, böse oder man­gel­haft wären; son­dern weil die Kri­se zum natür­li­chen Leben dazu­ge­hört wie das Wachs­tum und der Tod. Denn die Kri­se ist ein Grund­prin­zip des Lebens, ja der gan­zen Natur, wie das Expe­ri­ment Pro­fes­sor Dürrs ver­an­schau­licht: Alles, was ist, steht unaus­weich­lich unter dem kri­sen­haf­ten Vor­be­halt, es könn­te jeder­zeit auch anders sein. Dass Leben kri­sen­haft ist, ist nach­ge­ra­de ein Naturgesetz.

Für Men­schen gilt das in beson­de­rem Maße. Mensch­li­che Leben­dig­keit ist ohne Kri­se nicht zu haben. Ein­fach des­halb, weil das Leben selbst so über­aus unwahr­schein­lich und des­halb immer auch gefähr­det ist. Die sta­tis­ti­sche Wahr­schein­lich­keit, per Zufalls­tref­fer die mole­ku­la­re Zusam­men­set­zung des gene­ti­schen Codes eines ein­fa­chen Bak­te­ri­ums zu fin­den, liegt bei 102400000. Ent­spre­chend groß ist die Wahr­schein­lich­keit, dass es die­ses Bak­te­ri­um nicht gibt.[1] Das heißt: Die Kom­ple­xi­tät schon ein­fachs­ter leben­di­ger Orga­nis­men ist so hoch, dass Sta­bi­li­tät, Ord­nung, Sicher­heit, Ver­läss­lich­keit kei­nes­wegs als selbst­ver­ständ­li­cher Regel­fall der Natur gel­ten kön­nen, son­dern als uner­mess­li­ches und des­halb lei­der auch stets bedroh­tes Wun­der, dem Zer­fall und Tod als ulti­ma­ti­ve Kri­sen von Anfang an innewohnen.

Der Bio­lo­ge und Phi­lo­soph Andre­as Weber hat die­se Wahr­heit ein­drucks­voll zur Spra­che gebracht, wenn er in sei­nem Buch „Leben­dig­keit“[2] notiert: „Die Spiel­re­geln des Lebens besa­gen, dass wir ver­su­chen soll­ten, so leben­dig wie mög­lich zu sein – und gera­de dar­in aner­ken­nen soll­ten, dass wir voll­kom­men sterb­lich sind. Ja, dass wir, um wei­ter leben­dig zu wer­den, immer wie­der ster­ben müs­sen.“ Und er betont, dass wir des­halb gut bera­ten sind, der per­ma­nen­ten Kri­sen­haf­tig­keit der Natur nicht aus­zu­wei­chen, wenn wir unse­re eige­ne Leben­dig­keit und damit unse­re unver­wech­sel­ba­re Iden­ti­tät ent­fal­ten wol­len: „weil alles Leben ein schöp­fe­ri­scher Pro­zess ist, in dem sich eine füh­len­de Iden­ti­tät nur aus­bil­det, indem sie sich bestän­dig zu Neu­em hin öff­net und dabei schon stoff­lich dau­ernd einen Teil von sich selbst aufgibt“.

Was Weber hier beschreibt, lässt sich als die fun­da­men­ta­le Tra­gik des natür­li­che Lebens beschrei­ben: Leben bedeu­tet immer auch Ster­ben. Und wenn der Tod als die Auf­lö­sung unse­res Orga­nis­mus die ulti­ma­ti­ve Kri­se unse­res Daseins bedeu­tet, so lässt sich jede par­ti­el­le Auf­lö­sung fes­ter, ver­läss­li­cher und ver­meint­lich siche­rer Struk­tu­ren als Anti­zi­pa­ti­on des Todes deu­ten: als Kata­ly­sa­tor, den Kern der eige­nen Exis­tenz gera­de dar­in zu ent­fal­ten, dass wir uns auf Neu­es ein und Altes hin­ter uns las­sen – als Kri­se, die uns dazu zwingt, etwas von uns auf­zu­ge­ben, um gera­de dar­in immer mehr zu dem oder der zu wer­den, der oder die wir sein kön­nen. „Und solang du das nicht hast, die­ses Stirb und Wer­de, bist du nur ein trü­ber Gast auf der dunk­len Erde.“ (Goe­the)

Das Wort Kri­se – wir spra­chen schon davon – ver­dan­ken wir den alten Grie­chen. Das ist kein Zufall, waren sie doch allem Anschein nach die größ­ten Vir­tuo­sen in der Kunst des Kri­sen­ma­nage­ments, die es je gab (und womög­lich bis heu­te gibt). Der höchs­te Aus­druck ihrer Meis­ter­schaft ist die Kunst­form der Tra­gö­die, die wir ihnen ver­dan­ken. Denn in ihren tra­gi­schen Dich­tun­gen wag­ten es die­se bemer­kens­wer­ten Men­schen, sich die ulti­ma­ti­ve Kri­sen­haf­tig­keit des natür­li­chen Lebens auf der Büh­ne vor Augen zu füh­ren: Ord­nun­gen wan­ken, nichts ist ver­läss­lich, die Welt ist ein Fluss des stän­di­gen Wan­dels, die Natur – die sie phy­sis nann­ten – ein Kom­men und Gehen. Doch die Ver­ge­gen­wär­ti­gung die­ser von der moder­nen Phy­sik und Bio­lo­gie bestä­tig­ten Ein­sich­ten in die Grund­prin­zi­pi­en der Natur ver­setz­ten die tra­gisch gestimm­ten Grie­chen kei­nes­wegs in Depres­si­on, denn sie erkann­ten dar­in etwas Hei­li­ges, das sie in Gestalt des Got­tes Dio­ny­sos ver­ehr­ten. Ihm waren die Tra­gö­di­en geweiht, denn ihn erkann­ten sie als gött­li­che Gestalt des ewi­gen Stirb und Wer­de.

Wo immer star­re, alte, mor­sche Ord­nun­gen wei­chen muss­ten, um Neu­em, Jun­gen, Fri­schen platz zu machen, damit das Leben wei­ter­geht und sich ent­fal­ten kann, war den Grie­chen der Dio­ny­sos am Wer­ke. Er begeis­ter­te und berausch­te die Men­schen, um ihnen den Aus­bruch aus ihren Fixie­run­gen, Jus­tie­run­gen und fal­schen Sicher­hei­ten zu ermög­li­chen. Er inspi­rier­te sie zu gänz­lich neu­en Wegen: dis­rup­ti­ven Inno­va­tio­nen, wie wir heu­te sagen wür­den. Der Gott der Kri­se was durch­aus ein Gott der Kata­stro­phe; aber immer stand sein Wir­ken im Diens­te der Ent­fal­tung des Lebens – der Blü­te der Leben­dig­keit. Dass Kri­sen Chan­cen sind, die neu­es Poten­zi­al erschlie­ßen, ist vom Men­schen­geist wohl nie so schön und kraft­voll zur Spra­che gebracht wor­den, wie im Mythos jenes alten Griechengottes.

Doch damit nicht genug. Der Mythos lehrt zudem, wie Men­schen sich zu Kri­sen – ja sogar zu Kata­stro­phen – sinn­vol­ler­wei­se ver­hal­ten soll­ten. Denn zahl­reich sind die alten Sagen, die davon erzäh­len, wie bese­li­gend und wie beglü­ckend es für Men­schen ist, wenn sie den Kri­sen des Dio­ny­sos nicht aus­wei­chen: wenn sie einer­seits sich selbst treu blei­ben und gleich­zei­tig doch mit­ge­hen im Gang der Zeit und mit­flie­ßen im Fluss des Lebens; wenn sie sich dem Wan­del der Natur hin­ge­ben und statt sich den Ver­än­de­run­gen zu ver­schlie­ßen, danach fra­gen, wie sie sie gestal­ten und dem Leben nutz­bar machen können.

Zahl­reich sind jedoch nicht min­der die Geschich­ten, die uns wis­sen las­sen, wie es denen ging, die sich dem Wan­del wider­setz­ten und dar­auf bestan­den, ihre alten und ver­brauch­ten Ord­nun­gen gewalt­sam auf­recht zu erhal­ten: Man­che wur­den wahn­sin­nig, ande­re wur­den zer­stü­ckelt – bedrü­cken­de Bil­der für den Zer­fall, der einem jeden leben­den Sys­tem droht, das sich wei­gert, den Spiel­re­geln des Lebens und der Natur zu genügen.

Die Lek­ti­on, die uns die alten Sagen geben, leh­ren am Ende gar nichts ande­res als das, was wir am Anfang sahen und durch das geleb­te Leben Bestä­ti­gung fin­den: Kri­sen gehö­ren mit dazu. Sie sind der Logik der Natur und allen Lebens ein­ge­zeich­net, denn sie öff­nen neue Hori­zon­te und ermög­li­chen den Wan­del, den wir brau­chen, um zu denen wach­sen und zu rei­fen, die wir wesent­lich sind – und um der Kom­ple­xi­tät des Lebens zu ent­spre­chen, die uns lehrt, dass wir nur dann unse­re Iden­ti­tät ent­fal­ten kön­nen, wenn wir bereit sind, sie immer wie­der in Fra­ge stel­len zu las­sen. Es liegt folg­lich an jedem Ein­zel­nen, ob er die Kri­se annimmt und als Chan­ce für sich erkennt, oder ob er sich gegen sie sperrt. Man kann auch dies tun, aber wenn man es tut, sperrt man sich damit auch gegen die Natur – und damit gegen Leben­dig­keit, Ent­fal­tung, Wachs­tum und Erfolg.

(Text von Chris­toph Quarch und Jan Teu­nen – ver­öf­fent­licht 2018 in der 125-Jah­re Zentis-Festschrift) 

[1] Dazu: Fried­rich Cra­mer: Cha­os und Ord­nung. Die kom­ple­xe Struk­tur des Leben­di­gen, Insel Ver­lag, Frankfurt/M 1993, S. 30.

[2] Andre­as Weber: Leben­dig­keit. Eine ero­ti­sche Öko­lo­gie, Kösel Ver­lag, Mün­chen 2014, S. 105.