Träume

Der 15. April 1865 ist ein schwar­zer Tag der ame­ri­ka­ni­schen Geschich­te. Es ist der Tag, an dem Abra­ham Lin­coln, der 16. Prä­si­dent der Ver­ei­nig­ten Staa­ten, einem Atten­tat zum Opfer fiel. Lin­coln woll­te die Skla­ve­rei abschaf­fen. Er war ein weit­sich­ti­ger Mann. Er war aber auch ein hell­sich­ti­ger Mann. Denn weni­ge Tage vor dem töd­li­chen Anschlag hat­te er sei­ner Frau Mary und sei­nem Leib­wäch­ter Ward Hill Lamon von einem merk­wür­di­gen Traum erzählt: Er habe im Traum einer Bei­set­zung bei­gewohnt. Da er nicht wuss­te, wer denn dort beer­digt wür­de, habe er einen Wach­sol­da­ten gefragt. Die­ser habe ihm geant­wor­tet, der Prä­si­dent sei durch einen Atten­tä­ter getö­tet worden…

Dass jemand im Traum sei­ner eige­nen Bei­set­zung bei­wohnt, geschieht sel­ten. Dass wir träu­mend Ereig­nis­se vor­weg­neh­men, die spä­ter ein­tref­fen, ist hin­ge­gen häu­fig belegt. So berich­tet etwa Dr. Dr. Wal­ter von Luca­dou von der renom­mier­te Para­psy­cho­lo­gi­schen Bera­tungs­stel­le in Frei­burg davon, dass ihm zahl­rei­che Men­schen glaub­haft berich­tet haben, sie hät­ten weni­ge Tage vor dem 11. Sep­tem­ber 2001 geträumt, dass Flug­zeu­ge in hohe Wol­ken­krat­zer stürzen.

Nichts Unge­wöhn­li­ches, wenn man den Traum­for­schern fol­gen darf: Jeder Drit­te, so sagen ihre Stu­di­en, kann von sol­chen Wahr­träu­men berich­ten. Wen wundert’s, dass Men­schen aller Kul­tu­ren zu allen Zei­ten davon über­zeugt waren und sind: Träu­me sind kei­nes­wegs nur Schäu­me. Wenn viel­leicht auch nicht alle, so gibt es doch Träu­me, die uns etwas zu sagen haben: Träu­me, die Sinn machen; Träu­me, bei denen es lohnt, sie zu deuten.

Lite­ra­tur und Kunst jeden­falls sind voll von sol­chen Träu­men. Von Homer über Nova­lis bis zu Pau­lo Coel­hos: Dass Roman­hel­den näch­tens der Weg gewie­sen wird – die Hei­mat, die Blaue Blu­me oder den Schatz im eige­nen Acker fin­den – ist ein immer wie­der­keh­ren­des Motiv. Wobei sich Lite­ra­ten ungern fest­le­gen, wer denn der Urhe­ber jener weg­wei­sen­den Träu­me sei. Da ist die Bibel ein­deu­ti­ger. Im Buch Hiob heißt es: „Im Traum, im Nacht­ge­sicht, wenn der Schlaf auf die Men­schen fällt, da öff­net Gott das Ohr der Men­schen und schreckt sie auf und warnt sie, damit Er den Men­schen von sei­nem Vor­ha­ben abwen­de und von ihm die Hof­fart til­ge und bewah­re sei­ne Seele.“

Wie das kon­kret aus­sieht, davon erzählt die Bibel reich­lich Geschich­ten: Den Köni­gen aus dem Mor­gen­land tritt ein Engel ans Bett, um sie vor einer Rück­kehr zur Hero­des zu war­nen. Dem Pro­phe­ten Dani­el wer­den nächt­li­che Offen­ba­run­gen zuteil, Jakob träumt von der Him­mels­lei­ter und die Frau des Pila­tus tritt zu ihrem Mann, um ihn wis­sen zu las­sen, sie habe um Jesu im Träu­me viel gelitten.

Der größ­te Träu­mer der Bibel aber ist Josef. Nicht nur, dass er selbst ein Meis­ter des Wahr­traums war – etwa als er als Kind träum­te, sei­ne Brü­der wür­den sich der­einst vor ihm ver­nei­gen. Son­dern auch als Traum­deu­ter mach­te er gro­ße Kar­rie­re. Denn als er des Pha­ra­os Träu­me rich­tig inter­pre­tier­te und dadurch Ägyp­ten vor einer Hun­gers­not bewah­ren, wur­de er von des­sen Gna­den mit Macht und Reich­tum beschenkt. Mit der Begrün­dung, ein Mann, dem Got­tes Geist in die­sem Maße inne­wohnt, las­se sich kein zwei­tes Mal finden.

Dass Gott oder die Göt­ter es sind, die dem Men­schen im Traum zur Sei­te tre­ten, war für die gan­ze alte Welt eine Selbst­ver­ständ­lich­keit. Nie­mand hät­te im alten Grie­chen­land, Rom oder Baby­lon dar­an gezwei­felt, dass ein  Traum wie der von Abra­ham Lin­coln gött­li­chen Ursprungs sei. Die Zwei­fel kamen erst spä­ter, im Zuge der Auf­klä­rung. Nun erschie­nen die Träu­me wie­der als irra­tio­na­le Neben­säch­lich­kei­ten – Schäu­me halt, denen man kei­ne Beach­tung schen­ken müs­se. Die­ser Zwei­fel hat sich tief in unser Den­ken ein­ge­gra­ben. Wie oft hören wir uns sagen: „Es war doch nur ein Traum.“

War es wirk­lich nur ein Traum? Um auf die­se Fra­ge eine Ant­wort zu geben, ist inzwi­schen eine gan­ze Wis­sen­schaft auf den Plan getre­ten. Ihr Ziel: das Geheim­nis der Träu­me ergrün­den; her­aus­fin­den, ob sie nun Schäu­me sind oder doch bedeu­tungs­schwan­ge­re Ein­flüs­te­run­gen aus einer ande­ren Dimension.

Am Anfang der Traum­for­schung steht Sig­mund Freud. Von ihm stammt das berühm­te Wort, Träu­me sei­en der „Königs­weg zum Unbe­wuss­ten“. Denn weder Engel noch Gott, son­dern wir selbst sind sei­ner Ansicht nach Urhe­ber unse­rer Träu­me – aller­dings nicht wil­lent­lich und bewusst. Son­dern laut Freud sind es unse­re unbe­wuss­ten, ver­dräng­ten, unter­drück­ten Wün­sche und Sehn­süch­te, die sich nachts im Traum aus­to­ben. Und deren Erfül­lung uns unse­re Träu­me vor­spie­len. Ein beson­ders plas­ti­sches Bei­spiel dafür waren ihm ero­ti­sche oder sexu­el­le Träu­me, in denen sich ein Begeh­ren erfüllt, des­sen Ver­wirk­li­chung im rea­len Leben ver­wehrt bleibt.

Von die­ser Grund­an­nah­me her konn­te Freud anneh­men, dass sich auch der Inhalt und die Bil­der unse­rer Träu­me danach rich­ten, was wir uns wün­schen. Und weil unser bewuss­tes Ich die­se Wün­sche ablehnt, suchen sie sich ver­schlun­ge­ne Wege und Aus­drucks­for­men, mein­te er. So kommt es, dass er in sei­ner Traum­deu­tung in jedem senk­recht nach oben gerich­te­ten Objekt ein sexu­el­les Sym­bol erken­nen konn­te – ein Deu­tungs­schlüs­sel, dem heu­te nie­mand mehr fol­gen möchte.

Denn die Erfor­schung der Träu­me hat mit Freud nicht Halt gemacht. Sie ist wei­ter­ge­gan­gen – und hat ihrem Pio­nier dabei zunächst erst mal den Kampf ange­sagt. So gesche­hen in den Sieb­zi­ger­jah­ren, als die Hirn­for­scher das Heft in die Hand zu neh­men began­nen. Nun wur­den Träu­me mit Elek­tro­den ver­ka­belt und in Schlaf­la­bors minu­ti­ös durch­leuch­tet. Dabei beob­ach­te­ten die For­scher, dass das schnel­le Augen­rol­len in der soge­nann­ten REM-Schlaf­pha­se (REM = Rapit Eye Move­ment) das Träu­men anzeigt. Und sie stell­ten fest, dass Men­schen, die in die­ser Pha­se geweckt wer­den, von leb­haf­ten Träu­men berich­ten konnten.

Es folg­te eine zwei­te Ent­de­ckung der Traum­for­scher. Und die war ver­nich­tend für alle, die in Träu­men ver­schlüs­sel­te Bot­schaf­ten ver­mu­te­ten – sei es von Gott, Göt­tern oder dem Unbe­wuss­ten. Denn die For­scher stell­ten fest, dass die REM-Schlaf­pha­sen von Impul­sen aus unse­rem Stamm­hirn bewegt wer­den. Aus die­ser Quel­le aber ist nicht viel zu erwar­ten. Träu­me, so schien es, sind nichts ande­res als chao­ti­sche Ent­la­dun­gen von Hirn­strö­men, die zu deu­ten etwa so viel Sinn macht wie die Inter­pre­ta­ti­on eines Hagelschauers.

Wenn das stimmt, dann wäre auch Lin­colns nächt­li­cher Besuch sei­ner eige­nen Bei­set­zung kein Wahr­traum, son­dern eine Bil­der­fol­ge, die rein zufäl­lig mit einem spä­ter ein­tref­fen­den Ereig­nis in Bezie­hung gebracht wer­den konn­te. Was sein kann, aber viel unwahr­schein­li­cher ist als ein Sech­ser im Lot­to. Kein Wun­der so gese­hen, dass sich weder Wis­sen­schaft­ler, noch Träu­mer mit die­sem Stand der For­schung zufrie­den geben woll­ten. Und also expe­ri­men­tier­te man weiter.

Mit Erfolg. Heu­te herrscht weit­ge­hen­de Einig­keit der Traum­for­scher dar­über, dass Träu­me mehr sind als nächt­li­che Hirn­ge­wit­ter. Viel­mehr geht man inzwi­schen davon aus, dass Träu­me intel­li­gen­ten Ope­ra­tio­nen des Gehirns sind, mit denen wir uner­le­dig­te Pro­ble­me des durch­spie­len und dabei ganz ande­re, über­ra­schen­de Lösun­gen fin­den. Träu­me, so könn­te man sagen, spie­len mit den Res­ten des Tages und schaf­fen uns damit heil­sa­me Ent­las­tung. Ein Stück weit ist der alte Freud dadurch rehabiliert.

Nur sei­ne Traum­deu­tung stößt wei­ter­hin auf Ableh­nung. All­ge­mein gül­ti­ge Traum­sym­bo­le, die bei jeder­mann das­sel­be bedeu­ten, gibt es nach Ansicht der meis­ten Exper­ten nicht. „Traum­koch­bü­cher“, aus denen man erfah­ren kön­ne, was das Erschei­nen von Stie­ren oder Bana­nen im Traum bedeu­te, sei­en „blan­ker Unsinn“, sagt Prof. Mari­an­ne Leu­zin­ger-Boh­le­ber vom Sig­mund-Freud-Insti­tut in Frank­furt. Jedes Sym­bol bedeu­te bei jedem etwas ande­res. Und des­we­gen warnt ihr Kol­le­ge Ste­phan Hau auch davor zu glau­ben, man kön­ne in Träu­men unmit­tel­ba­re Hand­lungs­an­lei­tun­gen erken­nen. Ein Traum kön­ne immer nur unter Berück­sich­ti­gung der beson­de­ren Situa­ti­on des Träu­men­den gedeu­tet wer­den, meint er.

Aber immer­hin: Für alle, die sich nicht damit abfin­den wol­len, dass Träu­me ledig­lich Schäu­me sind, ist das eine gute Nach­richt. Denn wenn es stimmt, was die neue­re For­schung sagt, dann heißt das: „Aus Träu­men kann man klü­ger wer­den – wenn man genau dar­über nach­denkt.“ So sagt es Dr. Micha­el Schredl, ein ver­sier­ter Traum­for­scher vom Zen­tral­in­sti­tut für See­li­che Gesund­heit in Mann­heim. Für ihn sind Träu­me tat­säch­lich so etwas wie ein „Königs­weg“ zu uns selbst.

Wes­halb er emp­fiehlt, sich die eige­nen Träu­me gut anzu­schau­en und sich dar­in zu trai­nie­ren, die nächt­li­chen Erleb­nis­se nicht ver­ges­sen: „Legen Sie sich Zet­tel und Stift neben das Bett. Ver­su­chen Sie beim Auf­wa­chen sofort zu reka­pi­tu­lie­ren, ob etwas gewe­sen ist und schrei­ben Sie es auf. Wen­det man die­ses Ver­fah­ren kon­ti­nu­ier­lich an“, sagt er, „kann man sich immer bes­ser erinnern.“