Tod und Endlichkeit

(Ein Inter­view mit mir für den Mann­hei­mer Mor­gen, den dar­aus ver­fass­ten Arti­kel vom Sa. 25.01.2020 fin­den Sie hier. 

Herr Quarch, brau­chen wir den Tod?


Selbst­ver­ständ­lich brau­chen wir den Tod. Ohne den Tod, gibt es kein Leben, kei­ne Erneue­rung, kei­ne Ent­wick­lung. Man kann sich das durch einen Gedan­ken klar machen, den ich bei einem Autor namens Georg Chris­toph Tobler gefun­den habe. In sei­nem Essay „Natur“ von 1782 schrieb er, der Tod sei der schöns­te „Kunst­griff“ der Natur, „um mög­lichst viel Leben zu haben“. Es ist doch ganz ein­fach: Altes muss wei­chen, damit Neu­es ent­ste­hen kann. Die Natur ist auf Viel­falt und Diver­si­tät ange­legt – und auf Indi­vi­dua­li­tät. Das Leben mani­fes­tiert sich in immer wie­der ande­ren Varia­tio­nen. Wenn all das, was ein­mal ent­stan­den ist, nie mehr ver­schwän­de, wür­de die Natur weit unter ihren Mög­lich­kei­ten blei­ben. Wahr­schein­lich gäbe es uns dann gar nicht, weil alles vol­ler Mikro­ben oder Sau­ri­er wäre. Kurz: Im Reich des Lebens schafft der Tod der einen den Raum für die Geburt der ande­ren. Und das ist gut so, denn auf die­se Wei­se kann sich das Leben zu Viel­falt und Schön­heit ent­fal­ten.

Für den ein­zel­nen ist das aber trotz­dem schwer zu akzep­tie­ren.

Es ist alles eine Fra­ge des Selbst­ver­ständ­nis­ses. Wir Men­schen der Neu­zeit sit­zen einem Men­schen­bild auf, das behaup­tet, der Mensch sei ein sich durch Raum und Zeit erhal­ten­des Sub­jekt, das Erfül­lung dar­in fin­det, sei­ne diver­sen Bedürf­nis­se zu befrie­di­gen. Weil die­se Bedürf­nis­se end­los sind, erscheint uns die Idee eines end­lo­sen Lebens attrak­tiv. Unsterb­lich­keit stellt uns in Aus­sicht, durch immer neue Bedürf­nis­be­frie­di­gung immer neu­es Glück zu erle­ben – und das in alle Ewig­keit. Was aber, wenn die­ses Men­schen­bild zu kurz greift? Was, wenn wir Erfül­lung in Wahr­heit gar nicht da fin­den, wo wir unse­re Bedürf­nis­se befrie­di­gen oder unse­ren Wil­len bekom­men, son­dern wo wir unser Dasein als etwas voll­kom­men Sinn­vol­les erle­ben? Und zwar gera­de unser end­li­ches, sterb­li­ches Dasein.

Wol­len Sie damit sagen, dass es wirk­li­ches Glück und wirk­li­chen Sinn nur vor dem Hori­zont des Todes gibt?

Genau das. Das Wis­sen dar­um, dass wir end­lich sind, gibt jedem Augen­blick unse­res Seins einen unend­li­chen Wert. Die Per­spek­ti­ve des Todes zwingt uns gleich­sam dazu, die Ver­ant­wor­tung für unser Leben zu über­neh­men und so zu leben, dass wir das, was wir tun und lei­den, als sinn­voll erfah­ren. Genau das gelingt aber nur dann, wenn wir uns nicht dar­über täu­schen, wer wir sind und wo wir leben: sterb­li­che Wesen in einer end­li­chen Welt. Das heißt: Was unse­rem Leben wirk­lich Erfül­lung schen­ken kann, ist ein bedin­gungs­lo­ses Ja zu unse­rer End­lich­keit und zu unse­rem Ein­ge­bun­den­sein in eine leben­di­ge Natur, deren Grund­re­gel lau­tet: Was gebo­ren wird, muss ster­ben. Wenn wir – mit den Wor­ten des Psy­cho­lo­gen Vik­tor Frankl – „trotz­dem Ja zum Leben“ sagen und die Unaus­weich­lich­keit des Todes akzep­tie­ren, haben wir die Chan­ce, schon Hier und Jetzt dau­er­haf­te Erfül­lung zu fin­den – anstatt sie auf eine end­lo­se Zukunft zu ver­schie­ben. Alles kommt dar­auf an, mit dem Dich­ter Fried­rich Höl­der­lin sagen zu kön­nen: „Ein­mal lebt ich wie Göt­ter, mehr bedarf es nicht.“ Wer sol­ches sagen kann, ver­liert den Hun­ger nach Unsterb­lich­keit.

Aber woher kommt der alte Mensch­heits­traum vom ewi­gen Leben?

Das ist kein Mensch­heits­traum, son­dern eine Phan­ta­sie, die sich mensch­heits­ge­schicht­lich erst spät durch setz­te. Die Hel­den in Homers Epen haben kei­ne Idee von einem ewi­gen Leben. Auch die meis­ten india­ni­schen Völ­ker wür­den mit Fred­dy Mer­cu­ry sagen: „Who wants to live fore­ver.“ Wenn über­haupt, hoff­te man auf ein Fort­le­ben der See­le – sei es, indem sie zurück­kehrt in das Gro­ße Gan­ze der Natur, sei es, dass sie an ande­rem Orte wie­der­ge­bo­ren wird. Aber dass es für mich, als Sub­jekt, reiz­voll wäre irgend­wie end­los wei­ter­zu­le­ben, ist eine Idee, die erst ent­stand, als der Mensch sich schon in hohem Maße vom natür­li­chen Leben ent­frem­det hat­te.

Aber hät­te nicht wenigs­tens ein sehr lan­ges Leben für uns alle Vor­tei­le?

War­um? Damit wir die Fra­ge nach dem Sinn immer wei­ter vor uns her­schie­ben? Damit wir unse­re Mit­men­schen umso län­ger mit unse­rem ach so tol­len Ego beglü­cken kön­nen? Nein. Ich glau­be, wir soll­ten unser Augen­merk dar­auf len­ken, wie wir hier und heu­te so leben kön­nen, dass der Tod sei­nen Schre­cken ver­liert: indem wir uns voll und ganz aufs Leben ein­las­sen, auf die Lie­be ein­las­sen, auf das Lei­den ein­las­sen, uns bei vol­lem Bewusst­sein dem hin­ge­ben, was unse­re See­le berührt – lie­ber kurz und tief leben als lang und flach. Das wich­tigs­te dafür ist, von unse­rem Ego-Trip run­ter­zu­kom­men und uns in aller Beschei­den­heit ein­zu­ge­ste­hen, dass es gut ist, irgend­wann Platz für ande­re und jün­ge­re zu machen.