„Patriotismus ist ein Konzept, das in der Welt von heute nicht mehr taugt.”

Taugen nationale Symbole wirklich als Kitt gesellschaftlicher Verwerfungen?

Christoph Quarchs Gedanken zum heutigen „Tag des Grundgesetzes”

Hät­ten Sie es gewusst: Heu­te ist der „Tag des Grund­ge­set­zes”, mit dem an die Ver­ab­schie­dung des Grund­ge­set­zes am 23. Mai 1949 erin­nert wer­den soll. Wenn es nach CDU und CSU gin­ge, soll dar­aus ab dem kom­men­den Jahr ein bun­des­wei­ter gesetz­li­cher Gedenk­tag wer­den. So sieht es ein Antrag vor, den der Uni­ons­frak­ti­on mit dem Titel »Bun­des­pro­gramm Patrio­tis­mus« am zurück­lie­gen­den Mitt­woch in den Bun­des­tag ein­ge­bracht hat. Die Begrün­dung: In Zei­ten zuneh­men­der gesell­schaft­li­cher Pola­ri­sie­rung wür­den natio­na­le Sym­bo­le »star­ke Inte­gra­ti­ons- und Iden­ti­fi­ka­ti­ons­po­ten­tia­le zum Woh­le von Staat und Gesell­schaft ent­fal­ten«. Aber tau­gen natio­na­le Sym­bo­le wirk­lich als Kitt gesell­schaft­li­cher Ver­wer­fun­gen? Dar­über reden wir mit dem Phi­lo­so­phen Chris­toph Quarch.

Herr Quarch, brau­chen wir in Deutsch­land mehr Patriotismus?

Nein, ganz sicher nicht. Mehr Schwarz-Rot-Gold, mehr Natio­nal­hym­ne und mehr Bun­des­wehr­ge­löb­nis­se – wie der Uni­ons­vor­schlag vor­sieht – wer­den nach mei­nem Dafür­hal­ten genau das Gegen­teil von dem errei­chen, was sich die Antrag­stel­ler davon ver­spre­chen: gera­de nicht mehr Zusam­men­halt, son­dern tie­fe­re Grä­ben in der Gesell­schaft. Denn es ist mit­nich­ten so, dass die meis­ten Bür­ge­rin­nen und Bür­ger die­ses Lan­des sehn­süch­tig dar­auf war­ten, auch außer­halb von Fuß­ball­sta­di­en die Natio­nal­flag­ge zu schwen­ken oder die Natio­nal­hym­ne zu schmet­tern. Und das mit gutem Grund, wenn man sich an die deut­sche Geschich­te erinnert.

Die Uni­on begrün­det ihren Vor­stoß damit, dass man natio­na­le Sym­bo­le auf kei­nen Fall gesell­schaft­li­chen Rand­grup­pen über­las­sen möch­te und dass sie des­halb durch die Staats­or­ga­ne auf­ge­wer­tet wer­den sollten.

Die Bot­schaft hör‘ ich wohl, allein mir fehlt der Glau­be. Außer­halb der Sport­stät­ten hat sich die poli­ti­sche Rech­te längst der natio­na­len Sym­bo­le bemäch­tigt – und zwar in einem sol­chen Maße, dass jede Kam­pa­gne zur Stär­kung des Patrio­tis­mus als eine Auf­wer­tung des rech­ten Lagers erscheint, was unwei­ger­lich die Lin­ke auf die Bar­ri­ka­den treibt. Des­we­gen ist die Uni­on gut bera­ten, die Fin­ger davon zu las­sen. Selbst wenn sie gezielt am rech­ten Ran­de fischen woll­te, ist die Gefahr immens, dass der Schuss nach hin­ten los geht. Ein­fach des­halb, weil Patrio­tis­mus ein Kon­zept ist, das in der Welt von heu­te nicht mehr taugt.

In ande­ren west­li­chen Län­dern ist das anders. In den USA etwa ist Patrio­tis­mus durch­aus das­je­ni­ge, was eine ansons­ten zer­rüt­te­te Gesell­schaft zusammenhält.

Das mag sein, aber der Sturm aufs Kapi­tol hat gezeigt, dass patrio­ti­sche Gefüh­le ein Feu­er sind, mit dem man nicht leicht­fer­tig spie­len soll­te. Glück­li­cher­wei­se haben wir auf­grund unse­rer Geschich­te die­se Lek­ti­on eini­ger­ma­ßen ver­in­ner­licht. Was wir aber noch nicht genü­gend ver­in­ner­licht haben, ist die Auf­ga­be, ande­re Wege der gesell­schaft­li­chen Iden­ti­täts­stif­tung zu beschrei­ten. Und das tut not, denn die Dia­gno­se, die dem Uni­ons­vor­schlag zugrun­de liegt, ist nicht falsch: Es gibt gesell­schaft­li­che Frik­tio­nen und wir brau­chen mehr Gemein­sinn und Bürgerbewusstsein. 

Was wären Ihrer Ansicht nach die pro­ba­ten Mit­tel, um den gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt bzw. das Zuge­hö­rig­keits­ge­fühl zu stärken?

Zunächst mal soll­ten wir die Fra­ge klä­ren, von wel­cher Zuge­hö­rig­keit wir eigent­lich reden. Ange­sichts der geo­po­li­ti­schen Her­aus­for­de­run­gen bin ich zutiefst davon über­zeugt, dass ein natio­nal­staat­li­ches Den­ken über­holt ist – zumin­dest in Euro­pa wird es ent­schei­dend dar­auf ankom­men, ein euro­päi­sches Bür­ger­be­wusst­sein aus­zu­bil­den. Natio­na­le Patrio­tis­men jed­we­der Art sind ange­sichts des­sen völ­lig kon­tra­pro­duk­tiv. Wenn schon Iden­ti­täts­po­li­tik, dann bit­te nicht in schwarz-rot-gold, son­dern in blau-gelb. Ger­ne eta­blie­ren wir am 8. Mai einen Euro­pa-Fei­er­tag, aber bit­te kei­ne Deutsch­tü­me­lei am 23. Mai. 

SWRak­tu­ell Frühstücks_Quarch vom 26.5.23 ver­öf­fent­licht eben­so im Forum Nach­hal­tig Wirtschaften