Überlegungen von Christoph Quarch für das Politische Feuilleton DLF, 9.1.2020
Am Stammtisch wurde schon immer gepöbelt. Aber die Anonymität des Netzes scheint Aggressionen erst so richtig anzuheizen. Kommunikation wird immer schwieriger. Da hilft nur eins, meint der Philosoph Christoph Quarch: Raus aus der eigenen Komfortzone.
„Leben heißt angeredet werden“, notierte Martin Buber in seinem Essay Zwiesprache von 1954. Mit wenigen Worten, weist der Philosoph uns damit auf eine oft verkannte Grundwahrheit des Menschseins hin: Leben ist In-Beziehung-Sein, Leben ist Konversation; und lebendig – wirklich lebendig – ist der Mensch erst da, wo er bereit ist, sich auf das Gespräch des Lebens einzulassen: Wo er bereit ist, sich anreden zu lassen, sich angehen zu lassen, sich ansprechen – ja, sich in Anspruch nehmen zu lassen.
Warum wirkliche Kommunikation so wichtig ist? Weil Leben Entwicklung und Wachstum bedeutet. Und weil in der lebendigen Welt Entwicklung und Wachstum immer das Produkt gelungener Interaktion sind. Nichts und niemand wächst aus sich allein. Ohne von der Welt genährt zu werden, kann kein Leben sich entwickeln. Ohne Anspruch und Zuspruch von außen, kann kein Mensch sein Potenzial entfalten. Um lebendig zu sein, brauchen wir die Begegnung, den Anspruch und Zuspruch von Mensch und Welt.
Zu starke Konzentration auf eigene Ansprüche
Oft aber vernehmen wir den Anspruch nicht, der an uns ergeht. Statt auf das zu hören, was uns Welt und Menschen sagen, beschränken wir uns darauf, unsere eigenen Ansprüche an andere geltend zu machen. Statt zu gewahren was ist, imprägnieren wir uns gegen den Anspruch, der an uns ergeht: Wollen nicht wahrhaben, dass sich die Erdatmosphäre erwärmt, dass die sozialen Verwerfungen zunehmen, dass unser Gesundheitswesen erodiert, dass unsere Finanzwirtschaft auf tönernen Füßen steht, dass der Gemeinsinn in den Herzen vieler Menschen erloschen ist. „Was geht mich das an“, fragt der anspruchslos gewordene Zeitgenosse. „Du musst dir von niemandem etwas sagen lassen“, predigen ihm Küchenpsychologen oder Marketingexperten: „Und: Sei anspruchsvoll! Sieh zu, dass du nicht zu kurz kommst!“
Hören-Lernen ist das Gebot der Stunde
Wer so denkt und handelt, lebt in Wahrheit anspruchslos, denn wer darauf verzichtet, sich ansprechen zu lassen, der verzichtet zugleich auf Wandel und Transformation. Gefangen in seinen eigenen Ansprüchen und fixiert auf die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse, tritt er nur noch auf der Stelle, bleibt bei sich, stagniert und erstarrt. Die Folgen liegen auf der Hand: Große Einsamkeit, die Erosion des gesellschaftlichen Miteinanders und eine beispiellose Zerstörung der Natur. Wir stehen in der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts vor beispiellosen Herausforderungen.
Wir werden ihnen nur begegnen können, wenn wir die Kunst des Hörens üben und uns unserer vielfältigen Zugehörigkeit bewusst werden: „Zueinander-gehören heißt immer zugleich Auf-einander-Hören-können“, hat der Philosoph Hans-Georg Gadamer diese einfache Wahrheit auf die Formel gebracht. Hören-Lernen ist deshalb das Gebot der Stunde. Hören-Lernen auf den, die oder das Andere, Hören-Lernen auch auf das, was uns befremdet oder anstößig erscheint. Denn wir brauchen das Anstößige, um in Bewegung versetzt zu werden und die allfällige gesellschaftliche Transformation in Gang zu bringen: Die Transformation, die uns aus der Erstarrung löst, in die wir infolge unserer anspruchslosen „Ist-mir-doch-egal“-Trance gefallen sind.
Mehr Mut, sich auf Ungewohntes einzulassen
Es kommt darauf an, Verantwortung zu übernehmen: Antwort zu geben auf das, was uns angeht. Dafür braucht es Offenheit und Geduld, Mut und Treue: Den Mut, sich auf Ungewohntes einzulassen und nachzufragen, wenn man etwas nicht versteht; und die Treue, dran zu bleiben. Das Gespräch erst dann zu beenden, wenn man zu Verständnis oder Einverständnis gelangt ist.