Nur ein Geist kann uns noch retten. Warum Europa seine kulturelle Identität wiederentdecken muss

Ist Euro­pa noch zu ret­ten? Die Ant­wort kann nur eine sein: Ja, Euro­pa ist zu ret­ten. Und es ist gar nicht schwer. Das ein­zi­ge, was Not tut, ist Besin­nung: Euro­pa wird zu ret­ten sein, sofern wir Euro­pä­er uns dar­an erin­nern, was Euro­pa ist, wofür Euro­pa steht, woher Euro­pa kommt und wel­cher Geist in ihm leben­dig ist. Denn nur der Geist Euro­pas wird Euro­pa retten.
Was ist der Geist Euro­pas? Die Fra­ge weist auf die Geschich­te. Der Geist Euro­pas zeigt sich dort am klars­ten, wo er zum ers­ten Mal erschien: im alten Grie­chen­land. Sei­ne Wie­ge ist Del­phi – der Ort, den man im Alter­tum für das Zen­trum der Welt hielt. Dort kam ein Geist zur Welt, der ein unbe­ding­tes „Ja“ zum Leben aus­sprach; ein Geist, der ein Men­schen­tum zur Blü­te brach­te und dabei um die Gren­ze alles Lebens wuss­te; ein Geist des Gleich­ge­wichts, der Har­mo­nie und der Balan­ce; ein Geist der Inte­gra­ti­on, des Aus­gleichs, des span­nungs­vol­len aber dabei doch aus­ge­wo­ge­nen Mit­ein­an­ders; der Schön­heit, die davon lebt, nicht ein­tö­nig, son­dern bunt zu sein.
„Das Bes­te ist das Maß“, lau­tet das Cre­do die­ses Geis­tes: Er ist ein Geist, der sich der bun­ten Viel­falt und Wider­sprüch­lich­kei­ten des Lebens ver­pflich­tet weiß, dem es dabei jedoch zu dar­um zu tun ist, die­se Viel­heit so zu arran­gie­ren, dass sie sich zu einem schö­nen und stim­mi­gen Gan­zen fügt. Die­ser Geist inspi­rier­te rund um das Städt­chen Del­phi einen Staa­ten­bund, die soge­nann­te Amphik­tyo­nie, dem zwölf Städ­te ange­hör­ten, die wie die Pla­ne­ten um ihr geis­ti­ges Zen­trum Del­phi kreis­ten. Ein sol­ches Gra­vi­ta­ti­ons­zen­trum braucht auch das heu­ti­ge Euro­pa: ein geis­ti­ges Zen­trum, des­sen Wer­te und Idea­le die Kraft haben, das poli­ti­sche Sys­tem Euro­pa von innen her­aus zusam­men­zu­hal­ten und auf ein­an­der ein- und abzustimmen.
Der Geist, der einst in Del­phi mäch­tig war, hat­te die­se Kraft. Und ihm ist zuzu­trau­en, dass er auch dem heu­ti­gen Euro­pa einen inne­ren Zusam­men­halt zu stif­ten ver­mag. Wuchs doch aus ihm die Atti­sche Demo­kra­tie, die von der Idee beseelt war, dass Har­mo­nie sich am ehes­ten da in einer Polis ver­wirk­li­chen las­se, wo die Bür­ger selbst das Wohl und Wehe ihrer Stadt ver­ant­wor­ten. Auch wuchs aus ihm die klas­si­sche Idee der Schön­heit, von der Euro­pa bis weit ins 19. Jahr­hun­dert hin­ein durch­drun­gen war. Das freie Den­ken und die Wis­sen­schaft sind sei­ne Früch­te. All das, was die Iden­ti­tät Euro­pas im Guten prägt, stammt aus die­ser Quelle.
Sie trägt auch wei­ter als die Reli­gio­nen: Der Geist von Del­phi war kein stren­ger Mon­arch oder Gesetz­ge­ber, son­dern einer, der die Men­schen anhielt, sel­ber zu erwä­gen, wie sie das Leben auf eine har­mo­ni­sche und stim­mi­ge Wei­se gestal­ten könn­ten: „Erken­ne dich selbst“, rief er denen zu, die ihm hul­dig­ten. Man möch­te die­ses Wort an Euro­pa wei­ter­sa­gen: „Erken­ne dich selbst!“ Denn es tut Not, dass sich Euro­pa sei­ner eigent­li­chen, geis­ti­gen Iden­ti­tät bewusst wird. Gera­de jetzt, wo sich die Euro­päi­sche Uni­on man­nig­fal­ti­gen Her­aus­for­de­run­gen kon­fron­tiert sieht, ist es an der Zeit, sich sei­ner Wur­zeln und sei­nes Ursprungs zu vergewissern.
Als poli­ti­sche Uni­on wird Euro­pa den aktu­el­len Her­aus­for­de­run­gen –ob man nun an die Migra­ti­ons­be­we­gun­gen, den Isla­mis­mus, Rechts­po­pu­lis­mus oder die Pla­ge der Staats­ver­schul­dung denkt – nur gewach­sen sein, wenn die Ver­ant­wort­li­chen in Euro­pas Haupt­städ­ten begrei­fen, dass die­ser Kon­ti­nent kein Markt­platz, son­dern allem vor­an ein Kul­tur­raum ist, der durch gemein­sa­me Wer­te und einen gemein­sa­men Geist geschaf­fen wur­de und erhal­ten wird; dass für den Fort­be­stand Euro­pas des­halb nichts dring­li­cher ist, als die­sen Geist zu för­dern, was bedeu­tet, in euro­päi­sche poli­ti­sche Bil­dung und die För­de­rung des geis­ti­gen Lebens bzw. der Kul­tur zu investieren.
Den Geist Euro­pas zur Spra­che zu brin­gen, ihn an die jün­ge­ren Gene­ra­tio­nen zu ver­mit­teln, gesamt­eu­ro­päi­sche Bil­dungs­in­sti­tu­te zu instal­lie­ren: das wären sinn­vol­le Ant­wor­ten an all jene, die Euro­pa der­zeit in Fra­ge stel­len. Euro­pa ist nicht nur ein Wirt­schafts­raum. Erst wenn das ver­stan­den ist, wird der Geist Euro­pas auf­er­ste­hen. Und auf­er­ste­hen muss er, wenn der Kon­ti­nent nicht schon wie­der in Klein­geis­te­rei und Klein­staa­te­rei unter­ge­hen will.
Besin­nen wir uns auf den Geist von Del­phi: den Geist der span­nungs­vol­len Stim­mig­keit des Lebens, den Geist der Schön­heit und Balan­ce. Wie wäre es, wenn die­ser Geist leben­dig wäre? Euro­pa wäre zukunfts­taug­lich, Euro­pa wäre öko­lo­gisch sau­ber und sozi­al. Euro­pa wäre schön, sei­ne Bür­ger fühl­ten sich in ihm zuhau­se. Es wäre ein Kon­ti­nent des unbe­ding­ten „Ja“ zum Leben.
Chris­toph Quarch Dezem­ber 2016