9. Mehr Land, weniger Stadt

Auf dem Land fühlt man sich in Zeiten der Pandemie wohler als in der Stadt. Umgeben von Feldern und Wäldern kann man freier atmen. Die Dichte der Menschen ist geringer, die soziale Nähe dafür oft größer. Und wer sein Gemüse im eigenen Garten anbaut, muss sich weniger Sorgen um die Grundversorgung machen. Natürlich gibt es auch Nachteile: Medizinische Einrichtungen und Apotheken sind oft weit entfernt; und wenn das Virus erst einmal ins Dorf geschleppt ist, kann es dort schnell um sich greifen. Doch ein Dorf lässt sich im Ernstfall abriegeln – entweder um das Virus nicht hinein-, oder um es nicht herauszulassen. Das urbane Leben scheint dagegen viel gefährlicher und viel fragiler. Sicher, im Normalfall hat es deutlich mehr zu bieten: Geselligkeit, Gastronomie Kultur, Freizeitangebote und natürlich Arbeitsplätze. Doch wenn all das stillgelegt wird, büßt die Stadt mit einem Schlag ihre Magie ein. Sie droht ins Unheimliche umzuschlagen.

Den Menschen der technisch-ökonomischen Moderne zieht es seit Jahrzehnten in urbane Ballungsräume. Für eine arbeitsteilige Gesellschaft und konsumgesteuerte Ökonomie ist die Stadt der passende Lebensraum. Urbane Zentren generieren eine weit höhere Wertschöpfung als der ländliche Raum. Der getreue Spiegel dessen sind die Unterschiede der Immobilienpreise in der Stadt und auf dem Land, die seit Jahren rasant auseinanderdriften. Dass dieses Ungleichgewicht auf Dauer nicht gut ist und etwas für die Entwicklung des ländlichen Raums getan werden muss, ist eine Erkenntnis, die schon vor dem Auftauchen von Covid-19 bekannt war. Nun könnte die Zeit gekommen sein, der Theorie auch Taten folgen zu lassen: Das Land braucht eine neue Würdigung als hochwertiges Habitat – auch dann, wenn keine Pandemie grassiert.

Das ist eine europäische Aufgabe. Es dürfte sinnvoll sein, für die Nach-Corona-Zeit Programme aufzusetzen, die Menschen in ländliche Regionen locken. Gerade für die Älteren könnte dies eine reizvolle Option sein. Warum nicht über neue Dörfer nachdenken, die Menschen jenseits der 65 ein gesundes Umfeld, ein überschaubares soziales Leben und eine solide Infrastruktur zur Verfügung stellen – mit regelmäßigem Shuttle-Service in die nächste Stadt? Das ist nur eine mögliche Vision für ein qualitätvolles und resilientes Landleben der Zukunft. Wir sollten uns keine Denkverbote auferlegen. Neue und nachhaltige Lebensformen könnten das Mittel der Wahl sein, wenn wir gut durchs 21. Jahrhundert kommen wollen. Die vorhandenen Ressourcen dafür couragiert zu nutzen, kann kein Fehler sein. Das Land ist eine solche Ressource.

10. Es braucht politische Führung

Nein, das ist nicht der Ruf nach einem starken Mann. Es ist nicht eine Avance an Despoten oder Autokraten à la Bolsonaro, Erdogan und Trump. Denn was diese Leute treiben, ist nicht Führung, sondern Diktatur: eine Form der Herrschaft, die ihre Legitimität nicht aus einem freien und öffentlichen Diskurs bzw. dem diskursiven Ringen um gesellschaftlich verantwortliches Handeln speist, sondern aus meist fragwürdigen Wahlergebnissen. In einer recht verstandenen Demokratie hingegen sind es nicht die gelegentlichen Wahlen, die Führung legitimieren – sondern die Fähigkeit des politischen Führungspersonals, verantwortliche Antworten auf die Ansprüche der Zeit zu geben: die Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger, die Herausforderungen einer Krise, die Bedrohungen durch ein Virus.

Politische Führung bewährt sich darin, die Zeichen der Zeit zu verstehen und auf sie zu reagieren – mindestens aktiv, besser noch proaktiv. Das gilt nicht nur für Krisenzeiten wie diese, sondern immer. Abwarten und Aussitzen sind keine Zeichen von Führung, sondern von mangelnder Verantwortungsbereitschaft. Bedauerlicherweise hat sich in den üppigen Jahren der letzten Dekade bei vielen Regierenden dieser fragwürdige (Nicht-)Führungsstil eingeschliffen – eine Entwicklung, die die Heraufkunft populistischer Strömungen begünstigt haben dürfte. Man hatte zuweilen den Eindruck, die Regierenden seien in eine Art Dornröschen-Schlaf gefallen und begnügten sich damit, die Organisation der Gesellschaft den Mechanismen des Marktes zu überlassen. Zu reibungslosen Zeiten funktionierte das tatsächlich, wenn auch mehr schlecht als recht. Jetzt funktioniert es nicht mehr.

Corona ist ein Weckruf an die Politik: Nicht zu Aktionismus im Stil eines US-Präsidenten, dem mal eben die Idee kommt, Schecks an seine Bürger zu verschicken. Eher im Stil europäischer oder föderaler Politik, bei der sich Verantwortliche untereinander abstimmen und diskursiv unterschiedliche Optionen durchdenken müssen. Dass solches geschieht, ist gut. Nicht nur, weil es dem Geist der Demokratie entspricht, sondern weil dadurch die Legitimation der Entscheidungen gesteigert wird. Man folgt bereitwilliger auch harten Anordnungen, wenn man weiß, dass sie sich einem verständniswilligen Diskurs und nicht den einsamen Entscheidungen alter weißer Männer verdanken, die nicht führen können, weil sie hinzuhören verlernt haben.

Wenn die Corona-Krise zu schnellen und couragierten Antworten zwingt, müssen verantwortungsvolle Politikerinnen und Politiker sie geben. Dass viele von ihnen (mehr als erwartet) die Zeichen der Zeit erkannt haben, ist erfreulich. Gut ist auch, dass sie dabei bedächtig vorgehen und darauf achtgeben, wer diejenigen sind, die es nun durch die Krise zu navigieren gilt. Nicht jede Maßnahme ist zu jeder Zeit richtig. Zuweilen muss man wohl dosieren, um Panik oder Wutausbrüche zu vermeiden. Politische Führung ist ein delikates Geschäft, das ein hohes Maß an situativer Intelligenz verlangt. Allgemeingültige Rezepte gibt es nicht. Was in dem einen Land richtig ist, kann in einem anderen Land nach hinten losgehen. Gute Führung weiß darum und hält sich deshalb eng an die Menschen, an die sie sich richtet. Sie bleibt mit ihnen im Gespräch.

Dialogische Führung – conversational leadership, wie mein Freund David Whyte es nennt – ist das Gebot der Stunde. Es ist tröstlich zu sehen, dass viele Politiker und Politikerinnen dies begriffen haben und einen vergleichsweise guten Job machen.