Menschsein braucht die Anderen

War­um wir selbst in Zei­ten der Pan­de­mie ein­an­der begeg­nen sollten. 

Social distancing und Kon­takt­re­duk­ti­on bedeu­tet Zeit zum Lesen. Das ist dann aber auch schon das ein­zi­ge Posi­ti­ve, was ich Aus­sa­gen wie denen des Öster­rei­chi­schen Bun­des­kanz­lers abge­win­nen kann, der uns weis­ma­chen möch­te, „jeder Kon­takt sei einer zu viel“. Selbst für Zei­ten der Pan­de­mie wage ich das zu bezwei­feln, denn um wahr­haft Mensch zu sein, braucht der Mensch sozia­le Kon­tak­te. Wir brau­chen die Begeg­nung mit Ande­ren, um zur Leben­dig­keit zu wach­sen und ein gro­ßer Mensch zu wer­den – was mir noch immer ein leuch­ten­de­res Ide­al zu sein scheint als das Leben als Couch-Pota­to bzw. Coro­na-Held, das uns die Bun­des­re­gie­rung der­zeit schmack­haft machen will. Pas­send dazu habe ich in die­sen Tagen noch ein­mal das klei­ne Buch „Ago­nie des Eros“ des dt.-koreanischen Phi­lo­so­phen Byung-Chul Han gele­sen. Er trägt dar­in die The­se vor, in den Her­zen vie­ler Zeit­ge­nos­sen sei der Eros erlo­schen. Nach­ge­ra­de flü­gel­lahm sei er gewor­den, weil die Men­schen der Gegen­wart die Fähig­keit – oder auch Bereit­schaft – ein­ge­büßt haben, sich auf die Ande­ren oder – noch abs­trak­ter – das Ande­re ein­zu­las­sen. Das Ande­re aber sei es, wovon Eros sich nährt: das Unfass­ba­re, Wider­stän­di­ge – das­je­ni­ge, was sich dem eige­nen Zugriff ent­zieht, dem eige­nen Machen ver­wei­gert; was dem eige­nen Wol­len unver­füg­bar bleibt. Die­se Über­le­gung leuch­tet mir ein. Nei­gen wir nicht alle dazu, uns vor­zugs­wei­se mit Men­schen zu umge­ben, mit denen wir uns reso­nant füh­len: die uns in unse­rem So-Sein bestä­ti­gen und damit unse­rem Bedürf­nis nach Aner­ken­nung Rech­nung tra­gen? All­zu­mal scheint das der beque­me­re und wohl auch siche­re­re Weg zu sein – gemes­sen an dem Aben­teu­er, sich dem Sog des Unheim­li­chen und pro­vo­kant Ande­ren hin­zu­ge­ben; die­sem Sog, des­sen Ver­füh­rungs­kraft zuletzt dar­in besteht, Aspek­te unse­rer selbst anzu­spre­chen, die wir sonst ger­ne aus­blen­den – die zu erken­nen und anzu­er­ken­nen uns jedoch ein Mehr an Echt­heit und Leben­dig­keit ver­spricht, wor­um wir uns aber betrü­gen, wenn wir den Ande­ren nicht als Ande­ren gewah­ren, son­dern als Selbst­be­spie­ge­lungs­flä­che unse­rer Selbst benut­zen. Ich geste­he offen: Auch mir fällt es zuwei­len es schwer, die Ande­ren in mei­nem Leben zuzu­las­sen. Als Coro­na-Held im hei­mi­schen Wohn­zim­mer hat man es beque­mer. Und auch ich nei­ge dazu, in der Stim­me Ande­rer nur mei­ne eige­ne Stim­me zu hören. Und doch sehe ich, dass ich auf die­se Wei­se letzt­lich auf der Stel­le tre­te und nur im eige­nen Saft schmo­re. Des­halb neh­me ich Han’s The­se ger­ne in mei­ne „Ero­ti­sche Lebens­kunst“ auf. Sie braucht das aben­teu­er­li­che Herz, das sich immer wie­der auf unbe­kann­tes Ter­rain hin­aus­wagt und sich nicht mit der Bequem­lich­keit einer beru­hi­gen­den Selbst­be­spie­ge­lung abfin­det. Letzt­lich wer­den wir nur dann zu denen, die wir sein kön­nen, wenn wir es den Ande­ren gestat­ten, unse­re Iden­ti­tät zu for­men. Dafür aber braucht es sozia­le Kon­tak­te. Gera­de jetzt. Das ist auch das zen­tra­le Motiv der Phi­lo­so­phie Mar­tin Bubers, die mich seit lan­gem begeis­tert. „Am Du zum Ich wer­den“, das ist ein star­kes Motiv, des­sen lebens­welt­li­che Rele­vanz für unse­re Zeit aus den oben genann­ten Grün­den nicht hoch genug ver­an­schlagt wer­den kann: Nicht nur, weil der Eros erlahmt, wenn er statt eines Du immer nur das im ande­ren ver­klei­de­te eige­ne Ich zu gewah­ren glaubt – vor allem des­halb, weil wir ohne die Begeg­nung mit dem Ande­ren der Gefahr erlie­gen, uns gänz­lich in unse­ren Selbst­bil­dern zu ver­stri­cken und dem eige­nen Nar­ziss­mus zu erlie­gen. „Erken­ne dich selbst!“ – rief der Gott von Del­phi sei­nen Pil­gern zu. Die­ser Anspruch des Ande­ren – des ganz Ande­ren – lässt uns zu unse­rer urei­gens­ten mensch­li­chen Blü­te reifen. 

NACHKLANG…Natürlich ist mir die Situa­ti­on in Kli­ni­ken und Gesund­heits­we­sen voll­kom­men bewusst und ich ken­ne selbst genü­gend unmit­tel­bar Betrof­fe­ne, Erkrank­te etc. – und ver­su­che hier best­mög­lich auch Unter­stüt­zung zu geben. Des­halb votie­re ich auch zu kei­nem Zeit­punkt dafür, die beschlos­se­nen Maß­nah­men abzu­schaf­fen. Es geht mir um etwas viel Grund­sätz­li­che­res, was mir gro­ße Sor­ge berei­tet: Wir soll­ten die Macht der Spra­che nicht unter­schät­zen: „Jeder Kon­takt ist einer zu viel“ ist ein Satz, der ste­hen bleibt, der sich ein­prägt in die Köp­fe der Kin­der und Jugend­li­chen und der Men­schen über­haupt – und zwar ohne Dif­fe­ren­zie­rung in phy­si­sche Kon­tak­te oder vir­tu­el­le Kon­tak­te. Des­halb sind sol­che Sät­ze gefähr­lich. Sie begüns­ti­gen die ohne­hin statt­fin­den­de Par­ti­ku­la­ri­sie­rung des Ein­zel­nen, las­sen Ver­bun­den­heit und Bezie­hung ero­die­ren und berau­ben das demo­kra­ti­sche Gemein­we­sen sei­nes Fun­da­men­tes: des Gemein­sinns. Wenn man schon sol­che Sät­ze in die Welt setzt, dann wäre es ver­ant­wor­tungs­voll im glei­chen Atem­zug die Men­schen dazu auf­zu­for­dern, die Zeit daheim gera­de nicht dafür zu ver­wen­den, NICHTS zu tun (wie es die deut­sche Regie­rung tut), son­dern Bezie­hun­gen zu pfle­gen, ande­re anzu­ru­fen, mit ihnen über digi­ta­le Kanä­le zu reden, poli­tisch zu wer­den – und sich vor allem mit all denen zu soli­da­ri­sie­ren, denen die Kon­takt­sper­re außer­or­dent­li­che Opfer auf­er­legt. Vor allem bei denen, für die die­se Opfer erbracht wer­den, wäre es ange­bracht, die Zeit der erzwun­ge­nen Iso­la­ti­on zu nut­zen, um etwas für die­je­ni­gen zu tun, die zum Erhalt der Gesund­heit der ande­ren ihre eige­ne öko­no­mi­sche Exis­tenz­grund­la­ge preis­ge­ben müs­sen. Kurz: Man kann phy­si­sche Kon­tak­te unter­sa­gen, wenn man zugleich für Soli­da­ri­tät, Gemein­sinn und sozia­le Gerech­tig­keit ein­tritt – ja, mehr noch: eine ent­spre­chen­de Poli­tik macht. Wo sie das eine ohne das ande­re tun, sägen Poli­ti­ker an dem Ast, auf dem wir alle sit­zen. Anti-Covid-Maß­nah­men-Demos geben einen Vor­ge­schmack auf das, was da noch kom­men wird. Das macht mir gro­ße Sor­gen. Herz­lich Christoph