Man muss noch Chaos in sich haben, um einen vierten Stern gebären zu können. Nietzsche, Heidegger und Hölderlin sehen das WM-Finale

Zum 10jährigen WM-Finale 13. Juli 2014 in Rio
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Es heißt, das Finale der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen Argentinien sei ein Spiel für die Ewigkeit gewesen – eines, das die Helden von Rio unsterblich gemacht habe. Wohl möglich; gewiss jedenfalls ist, dass auch einige ihrer Landsleute, die heute schon unsterblich sind, das Spiel verfolgt haben. Nun erreichte uns das Protokoll, eines denkwürdigen Fernsehabends, zu dem kein Geringerer als der weithin bekannte Philosoph Friedrich Nietzsche seine unsterblichen Freunde Friedrich Hölderlin und Martin Heidegger geladen hatte.

Kurz vor dem Spiel, so berichtet die vertraulich Quelle, habe Nietzsche dargelegt, warum er fest mit einem deutschen Turniersieg rechnet. Schon am Tag der Abreise der Spieler ins ferne Brasilien habe er gesagt: „Drei Verwandlungen nenne ich euch des deutschen Fußballs: wie der deutsche Fußball zum Kamele wird, und zum Löw das Kamel, und zum Weltmeister zuletzt der Löw. Wahrlich, es ist an der Zeit, dass der Löw sich sein Ziel stecke. Es ist an der Zeit, dass der Löw den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze. Ich aber sage euch: Dieser Löw pflanzt seine Hoffnung. Nun ist es die Zeit, wo der Löw den Pfeil seiner Sehnsucht über Deutschland hinaus wirft und die Sehne seines Bogens gen Brasilien schwirren lässt. Wahrlich, seine Spieler sind solche Pfeile der Sehnsucht – Pfeile der Sehnsucht nach dem andern Ufer sind sie“.

Beendet habe Nietzsche seine glühende Rede mit einem pathetischen Anruf an die deutschen Spieler: „Man muss noch Chaos in sich haben, um einen vierten Stern gebären zu können: Ich sage euch, ihr habt noch Chaos in euch! Denn gleich mir, meine Brüder, seid ihr die Jünger des Dionysos. Seht, ich werfe euch die Krone des Lachenden zu, die Krone des Tanzenden, die Krone des Austanzenden – euch, die ihr die Brasilianer zerlegt habt wie einst die rasenden Bacchantinnen im heiligen Rausch den König Pentheus in Stücke rissen.“

Überhaupt hat Nietzsche offenbar nicht aufhören können, vom triumphalen 7:1 gegen Brasilien zu schwärmen: davon, wie sich „im deutschen Angriff unter der dionysischen Gewalt immer wachsende Schaaren, singend und tanzend, von Tor zu Tor bewegten.“ Und allen voran geschritten sei als bacchantischer Chorführer des Deutschen Wunderkind: der bocksfüßige Thomas Müller; ein Satyr in Stollenschuhen; einer, der „das Urbild des Menschen“ sei, „der Ausdruck seiner höchsten und stärksten Regungen, ein begeisterter Schwärmer, den die Nähe des Gottes entrückt“. Die ganze Mannschaft habe er mitgerissen mit der Leichtfüßigkeit seines Spiels, „in deren Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet“ – kurz: Müller sei die Inkarnation des Dionysos, des rauschhaft, ekstatischen Gottes, und wenn er spielt, werde Deutschland Weltmeister.

Ihm sei es auch zu danken, dass die Fan-Meilen und Public-Viewings zu bacchantischen Feiern geraten seien: „Singend und tanzend äußert sich der Fan als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen“. Vor allem die Frauen huldigten wie einst dem rauschhaften Gott, wenn sie in Scharen bei den bacchantischen Festen vor der Großbildleinwand die Hüften schwingen oder in verzücktem Schmerz die Tränen fließen lassen. Und dass sie nicht ihre (kostbaren) Deutschland-Shirts zerreißen und mit entblößter Brust dem Satyr Müller huldigen, sei wohl nur einer noch nicht ganz abgelegten Scheu des Weibes vor dem kriegerischen Manne geschuldet.

Hölderlin habe daraufhin abwesend gemurmelt: „So sehr schonen die Himmlischen uns, nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch“, während Heidegger einen längeren Exkurs über die Verfallenheit des Man an die Betriebsamkeit des Geredes gehalten habe, die allerdings durch die Schickung des Fernsehzuschauers in das Schicksal der Sendung gelindert sei. „Der Scholl ist das Haus des Balles“, soll er abschließend gesagt haben. Dann habe man sich dem Bildschirm zugewandt. Hier setzt das minutiöse Protokoll der Spielkommentare ein.

Vor dem Anpfiff, die Spieler gehen am Weltpokal vorbei:
Hölderlin: Nah ist und schwer zu fassen der Pott. Wo aber ein Lahm ist, wächst das Rettende auch.
Heidegger: Zeigt sich in der Lichtung des Spiels die Abwesenheit des Seins, droht die Not der Entrückung des Lahm. Lahmt der Lahm, erlahmt der Fluss des Seins im Lahmento. Dann wird der Holzweg zum Mertesacker.
Nietzsche (ekstatisch): Vorwärts, Lahmfuß!

1. Halbzeit

Kroos köpft den Ball dem frei vor Neuer stehenden Higuain vor die Füße:
Hölderlin: Weh mir!
Nietzsche: Der Kroos ist ein Seil, gespannt zwischen Tier und Übermensch.

Higuain schießt neben das Tor
Heidegger: Die Schickung des Schicksals schickt sich schicklich in die Ungeschicklichkeit des Geschickten.

Higuain erziehlt ein Abseitstor:
Heidegger: Schicklich winkt aus der Ferne das Sein dem geschichtlichen Volk seine Wahrheit entgegen.
Hölderlin: Aber indessen kommt als Fahnenschwinger des Höchsten, der Linienrichter unter die Spieler herab. Selige Weise sehn‘s; ein Lächeln aus der gefangnen Seele leuchtet.

Kramer verlässt benommen den Platz:
Hölderlin: Ein Sohn der Erde / Scheint er, zu leiden gemacht, ausgewechselt zu werden.
Nietzsche: Er hat aus der Gefahr seinen Beruf gemacht, daran ist nichts zu verachten. Nun geht er an seinem Beruf zugrunde.

Nachspielzeit der ersten Halbzeit:
Hölderlin: Nur eine Ecke gönnt, oh ihr Gewaltigen, und einen Kopfball unserem Höwedes, dass williger das Herz, vom süßen Tor gesättiget, dann mir sterbe.

Höwedes köpft an den Pfosten:
Heidegger: Das Gestell ist unser Schicksal.

Halbzeitpfiff:
Hölderlin: Weh mir, wo nehm ich, wenn es Pause ist, die Hoffnung? Die Tore steh‘n sprachlos und kalt, im Winde klirren die Pfosten.

2. Halbzeit

Messi fummelt sich durch die deutsche Abwehr und schießt vorbei:
Hölderlin: Ach, der Menge gefällt, was auf den Marktplatze taugt und es ehret der Knecht nur einen Messi.

Neuer faustet den Ball gegen den anstürmenden Higuain ins Aus:
Hölderlin: Weh mir!
Nietzsche: Ich beschwöre dich, Neuer, bleibe der Erde treu!
Heidegger: Das Wesen des Neuers ist das Neuern. In der Erneuerung des Neuers entzieht sich das Ereignis des Tores und west in der Verneinung des Schiris.

Klose geht
Hölderlin: Nun, nun, er hatte, was er konnte, getan.

Götze kommt:
Heidegger: Die Philosophie wird keine unmittelbare Veränderung des jetzigen Spielstandes bewirken können. Dies gilt nicht nur von der Philosophie, sondern von allen bloß menschlichen Machenschaften. Nur noch ein Götze kann uns retten.

Özil kommt frei zum Schuss, verzieht aber:
Hölderlin: O, ein Gott ist der Özil wenn er spielt, ein Bettler, wenn er nachdenkt. Und wenn die Begeisterung hin ist, steht er da, wie ein verlorener Sohn und betrachtet die ärmliche Zeitlupe, die ihm der Delling mit auf den Weg gibt.

Verlängerung

Anpfiff zur Verlängerung:
Heidegger: Nicht wir haben den Ball, sondern der Ball hat uns.

113. Minute, Schürle flankt auf Götze:
Hölderlin (aufspringend): Seht, ihm gebührt es, unter Blitzlichtgewittern, / dem Götze! Mit entblößtem Haupte zu stehen, / Des Gottes Ball, ihn selbst, mit eig’ner Brust / Zu stoppen und mit Vollspann dann  / ins Netz die himmlische Gabe zu hauen. …
Heidegger: Das Ereignis! Es west!
Hölderlin (mit Blick auf den Torschützen): „… denn ist nur reinen Herzens er,/ Wie Kinder, er, sind schuldlos seine Füße,/ Des Schürles Pass, den reinen, versenkt er glatt.“
Heidegger: Der Vorbeigang des letzten Götzes. Ankünftig west er als das Ereignis des Im-Netz-Seins; so zwar, dass sich das Sein zum Tore wesentlich entbirgt in der langen Ecke des Gevierts von Himmel und Erde, Götzen und Menschen.
Nietzsche: Was geschieht mir? Still! Es sticht mich – wehe – ins Herz? Ins Herz! Oh zerbrich, zerbrich, Herz, nach solchem Glücke, nach solchem Stiche! – Wie? Ward die Welt nicht eben vollkommen? Rund und reif? O des goldenen runden Balles – wohin fliegt er wohl? Ins lange Eck! Husch!

Schweinsteiger liegt blutend am Boden:
Nietzsche: Ich liebe die, welche nicht erst hinter dem vierten Stern einen Grund suchen, unterzugehen und Opfer zu sein: sondern die sich im Kopfball opfern, um Zeit zu schinden.

120. Minute, Abpfiff
Hölderlin: „Germania, Du bist es, auserwählt, / Gut spielend und ein schweres Glück / Bist du zu tragen stark geworden.“
Nietzsche: „Laß mich doch! Still! Ward nicht die Welt eben vollkommen? O des goldnen runden Balls!“ Hier endet das Protokoll jenes denkwürdigen Fernsehabends. Es darf aber wohl einer daraus schließen, dass die drei bis spät in die Nacht gefeiert haben.