Macht mich Gaming zu einem besseren Menschen?

Fra­gen wir doch mal Herrn Schil­ler
 
Ach, das Spie­len – wie habe ich es doch geliebt! Als jun­ger Mann konn­te ich gar nicht genug davon bekom­men. Näch­te­lang spiel­ten wir Kar­ten, und so man­chen Ein­fall zu einem Gedicht habe ich auf einer Spiel­kar­te notiert. Spä­ter dann, als ich bei Caro­li­ne und Char­lot­te – mei­ner spä­te­ren Frau und ihrer Schwes­ter – ein und aus ging, da lieb­ten wir es, zu dritt Blin­de­kuh zu spie­len. Oh, das hat­te einen leicht fri­vo­len Reiz, den ich nicht leug­nen kann und auch nicht leug­nen möch­te. Doch, zu mei­ner Zeit im spä­ten 18. Jahr­hun­dert spiel­ten alle. Und die anzüg­li­chen Spie­le schätz­ten wir am meis­ten.
So gese­hen ist es merk­wür­dig, mich zu fra­gen, ob etwas dage­gen ein­zu­wen­den sei, dass erwach­se­ne Men­schen spie­len. Gewiss nicht, kann ich nur sagen, denn – wenn’s erlaubt ist, dass ich mich an die­ser Stel­le selbst zitie­re – der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Damit wäre eigent­lich auch schon die Ant­wort auf die mir gestell­te Fra­ge aus­ge­spro­chen. Doch ganz so leicht will ich es mir nicht machen. Schon als ich im Jah­re 1792 die­se Wor­te schrieb, haben sie nur weni­ge ver­stan­den. Des­halb scheint es mir gebo­ten, in gro­ben Stri­chen dar­zu­le­gen, was das Spie­len mir bedeu­tet – und von wel­cher Art des Spiels ich den­ke, dass es unbe­dingt zu einem guten Men­schen­le­ben nötig ist.
Die­se Klä­rung scheint mir des­halb ange­zeigt, da zu mir vor­ge­drun­gen ist, wel­che Spie­le es euch heut­zu­ta­ge vor­nehm­lich ange­tan haben. Nicht mehr ‚Spie­le‘ pflegt ihr sie zu nen­nen, son­dern ‚Games‘ – was klug ist, da die ‚Games‘, die ihr für Spie­le hal­tet, eben nicht das sind, wor­an ich dach­te, als ich schrieb, der Mensch sei über­haupt nur da ganz Mensch, wo er spielt. War­um? Ich will es euch sagen. Die Ant­wort steht im sel­ben mei­ner Brie­fe über die Ästhe­ti­sche Erzie­hung des Men­schen: Der Mensch soll nur mit der Schön­heit spie­len. Doch davon kann ich bei den meis­ten ‚Games‘  nichts ent­de­cken.
Ich fürch­te mei­ne The­se muss erläu­tert wer­den. Was hat es mit der Schön­heit auf sich, dass ich sage, sie allein sei ein wür­di­ger Gegen­stand des Spie­lens? Nicht woll­te ich damit sagen, dass Spie­le hübsch anzu­schau­en oder anzu­hö­ren sein soll­ten. Nein, wenn ich vom Schö­nen spre­che, mei­ne ich etwas ande­res: das­je­ni­ge, was den ange­neh­men Ein­druck erweckt, gänz­lich in sich selbst zu ruhen; und zwar so, dass ich, sofern ich mit dem Schö­nen Umgang pfle­ge, eben­so ganz in mir ruhen kann. Was aber ist es, dass so in sich selbst zu ruhen scheint? Etwas, das um kei­nes äuße­ren Nut­zens wil­len da ist, son­dern ganz sich selbst genügt. Den­ken Sie dabei an eine schö­ne Musik. Für Ihre Arbeit ist sie unnütz. Sie befrie­digt kein Bedürf­nis. Sie folgt kei­nen äuße­ren Zwän­gen und Geset­zen. Sie ist ein­fach nur sie selbst. Und eben des­halb ist sie schön.
Und beden­ken Sie: Wir sagen nicht zufäl­lig, Musik wer­de gespielt. Musi­zie­ren ist ein Spiel, eben­so wie Bridge oder Fuß­ball oder auch Mono­lo­py. Schön sind sol­che Spie­le, weil sie zweck­frei und für das All­tags­le­ben nutz­los sind; und weil Sie als Spie­ler gänz­lich frei sind, wenn Sie in die Spiel­welt ein­tau­chen. Sie fol­gen dabei weder Ihren wirt­schaft­li­chen Inter­es­sen, noch die­nen Sie der Befrie­di­gung Ihrer Bedürf­nis­se. Sie kön­nen sich ganz in das Spiel­ge­sche­hen ein­las­sen, dar­in auf­ge­hen, sich selbst ver­ges­sen – und sich genau des­halb frei und wirk­lich mensch­lich füh­len. Die­sen Zau­ber soll­ten Sie nicht preis­ge­ben, nur weil irgend­je­mand sagt, es zie­me sich nicht, als Erwach­se­ner zu spie­len.
Allein, der Zau­ber, der ein Spiel zu einer Zeit oder zu einem Ort der Frei­heit macht, wird sich nur ent­fal­ten, wenn das Spiel tat­säch­lich schön ist: wenn es nicht ver­dor­ben ist durch Inten­tio­nen; oder dadurch, dass es die Gren­ze zwi­schen Spiel und All­tag über­schrei­tet. Das aber ist etwas, das mich an den ‚Games‘ von heu­te stört, denn wahr­lich: Die­sen Spie­len fehlt zumeist die Schön­heit, die die Spie­ler inner­lich befrei­en wür­de. Viel­mehr legen sie den Spie­lern unsicht­ba­re Fes­seln an, machen süch­tig, weil sie Lohn, Gewinn oder Pro­fit ver­hei­ßen. Zweck­frei sind sie dann nicht mehr, statt­des­sen füh­ren sie zuwei­len in die Spiel­sucht; näm­lich dann, wenn sie immer wei­ter gehen, immer neu dazu ver­füh­ren, dran zu blei­ben. Spie­le ohne Ende, Spie­le ohne Gren­ze. Sol­che Spie­le sind nicht schön, denn nie ruhen sie in sich. Und so fin­den auch die Spie­ler, die sie spie­len, kei­ne Ruhe. Des­halb war­ne ich vor allen ‚Games‘, die nie ein Ende fin­den. Sol­che Spie­le sind ver­derb­lich. Lie­ber greift zum Kar­ten­spiel oder spielt mit­ein­an­der Blin­de­kuh. Und wenn es dabei ein­mal fri­vol zuge­hen soll­te, liegt dar­in doch eine Schön­heit, die ihr nie­mals fin­det wer­det, wenn ihr nur noch vor euren Com­pu­tern ‚spielt‘.
 
Fried­rich Schil­ler (1759–1805) ist den meis­ten als Dich­ter und Dra­ma­ti­ker bekannt. Tat­säch­lich aber ver­dan­ken sich sei­ner Feder eine Rei­he bedeu­ten­der Schrif­ten zur Theo­rie von Kunst und Schön­heit. Mit ihnen wur­de er zum Weg­be­rei­ter der Roman­tik, deren Vor­den­ker sich vor allem von sei­nen in den Brie­fen über die Ästhe­ti­sche Erzie­hung des Men­schen vor­ge­tra­ge­nen Gedan­ken über die Bedeu­tung des Spie­lens inspi­rie­ren lie­ßen. Mit sei­ner The­se, der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er spielt, wur­de Schil­ler zudem zu einem Pio­nier der Lebens­kunst-Phi­lo­so­phie des 20. Jahrhunderts.

DER CLUB DER TOTEN DENKER – Fried­rich Schil­ler über das Spiel
Die größ­ten Den­ker aller Zei­ten beant­wor­ten Fra­gen unse­rer Gegen­wart, über­mit­telt  durch den Phi­lo­so­phen Chris­toph Quarch.

(Aus mei­ner Kolum­ne bei der Zeit­schrift Redbulletin.at)

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