Leiben

Der Mensch lebt nur, sofern er leibt. Das Wort verdanke ich dem Denker Martin Buber. Und es bekundet eine stille Wahrheit, die dieser Tage oft erschütternd ihre Dringlichkeit verrät: Es gibt kein Menschenleben ohne Leib. Das Leben ist konkret und es immer inkarniert. Zumindest, insofern wir sterblich auf der Erde wandeln, leiben wir in Fleisch und Blut. Das Leiben ist das Wesen des konkreten Menschen. Als Leiber sind wir da – und zwar genau dort, wo der Leib ist. Nicht irgendwo in digitalen Welten, sondern an einem je bestimmten Raum zu einer je bestimmten Zeit. Wir hatten das womöglich schon vergessen. Nun werden wir daran erinnert. Von den Millionen Leiber jener Menschen, die nun als Flüchtlinge in unseren Ländern leiben.
Es sind Leibhaftige, die zu uns kommen. Nicht Zahlen sind sie, nicht Faktoren, nicht Probleme. Sie sind konkret und nicht abstrakt. Sie sind auch keine Datensätze, die man löschen oder auf andere Speicherplätze verschieben könnte. Sie sind keine Waren, mit denen sich Handel treiben ließe, sie sind noch nicht einmal Verbraucher oder Konsumenten. Sie sind beseelte Leiber, die sich nähren müssen. Wissen wir überhaupt noch, was das heißt? Können wir diese Menschen überhaupt noch als das gewahren, was sie in Wahrheit sind?
Wie leicht ist es, das Leiben auszublenden! Wie leicht ist es, den Leib zum Körper umzudeklarieren und zum Instrument des freien Willens zu ernennen – zu einer Sache, die das Ich gebrauchen und benutzen kann; und notfalls reparieren oder technisch aufrüsten, sofern das Ich sich solches leisten kann. Das alles hat mit der einfachen Tatsache des Leibens nichts zu tun. Es hat mit der einfachen Tatsache des Lebens nichts zu tun. Allein dafür, dass sie uns ungefragt vor diese Wahrheit stellen, sollten wir den Flüchtlingsmenschen dankbar sein. Denn dieses Wissen tut uns allen Not.
Ein Leib ist mehr als nur ein Körper. Ein Leib ist inkarnierte Seele. Er braucht nicht nur Nahrung, Schutz und Pflege. Er braucht auch Zuspruch und Begegnung. Er braucht ein Du, das sich ihm zuleibt. Nicht dass die Flüchtlingsmenschen zu uns kommen, macht mir Sorge. Sondern dass sie in unserem Land so selten einem Du begegnen, das sie leiben lässt. Auch dort noch, wo konkret geholfen wird, erscheinen sie zu oft als Dinge, die nun einmal zu versorgen sind. Was nicht getadelt werden soll, es geht mir nur darum, auf eines hinzuweisen: Die Flüchtlingsmenschen kommen nicht allein als Nehmende zu uns. Sofern sie (b)leiben sind sie immer auch die Gebenden – sie können uns die Einsicht geben, was es bedeutet, Mensch zu sein.