Interview mit mir im Main-Echo (09.06.2016)
Wie funktioniert Spiritualität? Interview mit dem Philosophen Christoph Quarch
Herr Dr. Quarch, man denkt beim Begriff Spiritualität an Kirche, vielleicht auch an Esoterik, manche gar an Geisterbeschwörungen und Tischerücken. Um was handelt es sich denn?
Quarch: Spiritualität ist ein Weg, der durch die Oberfläche in die Tiefe des Lebens führt. Es geht darum, eine Dimension zu erschließen, die uns das Bewusstsein vermittelt, dass die Welt, in der wir leben, und auch unser Leben sinnvoll sind. Spiritualität ist eigentlich die Erschließung von Sinn.
Sie haben beim Kongress »Spiritualität im Leben« in Bad Kissingen über »alte Gespenster« referiert. Was sind das für Gespenster?
Quarch: Das war bereits 1797 eine Diagnose der damaligen Zeit. Auch heute leben wir in einer Welt, die von Gespenstern beherrscht wird, nicht von Göttern. Gespenster sind oberflächliche Erscheinungen, reine Fassaden. Sie können Furcht einjagen, aber es ist nichts dahinter. Wir jagen ihnen in Form von Idolen und Idealen nach, die nicht in die Tiefe führen. Sie heißen Geld, Glück, Erfolg, »jetzt bin ich dran« oder auch »ich will guten Sex«, aber sie bringen den Menschen nicht dazu, sein Potential an Lebendigkeit zu entfalten.
Ja, aber wo ist die Zeit für Spiritualität?
Quarch: Eine wirklich authentische Spiritualität würde die Herrschaft der Gespenster brechen. Je rastloser wir an der Oberfläche daher düsen, umso unmöglicher wird der Weg in die Tiefe. Aber sie ist immer da. Es geht darum, wie man aus der Betriebsamkeit der Oberflächendynamik aussteigen kann. Da gibt es sehr viele Möglichkeiten. Es können die klassischen Wege wie Meditation und Kontemplation, aber auch Kunst oder Naturbetrachtung sein. Es geht darum, sich berühren zu lassen, sich einzulassen auf das, was die Welt uns zu sagen hat und nicht immer zu fragen: Was bringt mir das?
Haben Sie konkrete Tipps, wie man sich berühren, sich einlassen kann?
Quarch: Man kann natürlich die Zeit damit verbringen, die Fußball-Europameisterschaft anzusehen – was ich wohl auch tue –, aber man kann sich auch an einem Sommerabend vor die Tür setzen und das auf sich wirken lassen, was um einen herum ist, sich angesprochen fühlen. Da passiert etwas mit einem. Wir können die Sinnhaftigkeit der Welt spüren. Da zeigt sich dann ein Gott – oder eine Göttin.
Geht es noch etwas konkreter? Wie kann man den Arbeitsalltag mit viel Stress mit Spiritualität vereinbaren?
Quarch: Spiritualität passiert immer, wenn wir einem anderen Menschen begegnen. Ich kann den Kollegen bei der Arbeit als Funktionsträger sehen, aber auch als jemanden, durch den mir das Leben etwas zu sagen hat. Das ist jederzeit möglich. Wenn ich das tue, wird es eine Begegnung mit dem Leben. Deshalb ist es wichtig, mit einem Kollegen einen Kaffee zu trinken und ihn nicht nur als Rädchen im Getriebe zu sehen.
Nach Ihrer Meinung brauchen wir »etwas Wahnsinn, um aus der Oberflächlichkeit auszubrechen«. Wie sieht denn so ein Wahnsinn aus?
Quarch: Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind so groß, dass wir sie nicht mit den herkömmlichen Instrumenten des politischen Aktivismus lösen können. In Europa gibt es ein Wertevakuum: Es sind keine Götter da, es gibt nichts, was uns verbindlich verpflichtet. Aber Leben ist mehr als die technische Abarbeitung von Herausforderungen.
Hat das auch eine politische Dimension?
Quarch: Wir müssen lernen, dass uns die Welt etwas angeht, und dass es nicht darum geht, möglichst viel aus ihr herauszupressen. Wenn die Wertegrundlage fehlt, muss man sich nicht wundern, wenn das große Projekt Europäische Union strauchelt oder dass wir mit der Flüchtlingssituation nicht zurecht kommen, weil wir sie technisch-funktional angehen. Wir müssen neue Wege gehen, um den Herausforderungen durch Zuwanderung und Terror zu begegnen. Deshalb habe ich eine Kampagne zur Einführung eines Europäischen Bürgerdienstes gestartet.
Gabriele Ulrich
Zur Person:
Dr. Christoph Quarch, 51, Philosoph ist Berater und Veranstalter philosophischer Reisen. Er war von 2000 bis 2006 Programmchef des Deutschen Evangelischen Kirchentages und ist Autor von über 30 Büchern, zuletzt: »Liebe – der Geschmack des Christentums« (2015), »Der Alltagsphilosoph« (2014), »Das große Ja« (2014).