Viele haben sich daran gestört, dass ich in meinem Text vom Samstag geschrieben habe: „Es ist Krieg.“ Mich selbst hat erschreckt, dass sich mir diese Worte aufgedrängt haben. Als ich sie dann auf dem Monitor meines Laptops vor mir sah, habe ich geweint. Sie fühlten sich erschütternd wahr an.
Philosophisch, juristisch, politisch kann man einiges gegen sie einwenden. Was in Paris geschehen ist, entspricht nicht in allen Punkten den gängigen Definitionen von „Krieg“. Wenn „Krieg“, dann muss man wohl korrekter Weise mit dem Bundespräsidenten sagen, dass es sich bei den Anschlägen von Paris um eine neuartige Form des Krieges handelt.
So aber möchte ich den Terror von Paris dann doch bezeichnet wissen: Nicht – ich sage ausdrücklich: nicht – um damit dem Krieg gegen den Terror das Wort zu reden. Oder um zur allgemeinen Mobilmachung aufzurufen. Das liegt mir fern. Ich glaube nicht an den Krieg gegen den Terrorismus, denn was bisher unter dieser Bezeichnung veranstaltet wurde, überzeugt mich nicht. Ich glaube nicht an den Krieg gegen den Terror, aber ich sehe den Krieg der Terroristen gegen uns – ich sehe den kollektiven Verteidigungsfall.
Damit will ich sagen: Ich fühle mich von den Pariser Anschlägen als Bürger Europas in meiner Identität attackiert. Diese Anschläge richten sich nicht gegen Institutionen, Wirtschaftszweige oder Staaten – sie richten sich gegen die europäische Kultur und Lebensart. Sie richten sich gegen unsere Spiele, gegen unsere Musik, gegen unsere Kunst. Der Dalai Lama sagte einmal, der spirituelle Weg des Westens sei die Kunst. Wenn das stimmt, dann richten sich die Anschläge auch gegen unsere Spiritualität – gegen das, was einer säkular gewordenen Gesellschaft heilig ist, woraus sie ihre Kraft und Freude generiert, was sie über soziale und religiöse Grenzen hinweg verbindet.
Ein Angriff, der auf das kulturelle und spirituelle Fundament unserer europäischen Gesellschaft zielt, ist in meinen Augen etwas anderes als der Terrorismus, den ich bisher kannte. Und ich meine, es ist gut, das deutlich zu sagen. Dafür scheint mir das Wort „Krieg“ nicht unangebracht. Es signalisiert eines, was das Wort „Terrorismus“ nicht genug zu erkennen gibt: Was hier geschehen ist, lässt sich nicht mehr als irgendwie begrenzt, abgeschlossen, als Einzelfall oder Kette von Einzelfällen abtun. Nach dem Motto: „Es war ein Terroranschlag, das kommt vor. Dagegen gibt es keinen absoluten Schutz. Machen wir so weiter wie bisher.“ Nein, ich glaube, wir können nicht so weitermachen wie bisher. Ich glaube, wir müssen uns verteidigen – und zwar mit den Mitteln, von denen ich schon sprach: mit Mitteln des Geistes: durch Zusammenhalt, Rückbindung an unsere Tradition, Einübung unserer Tugenden – mit einem klaren Geist und einem liebenden Herzen, das nicht auf Rache sinnt, wohl aber weiß, dass zu verteidigen ist, was sie liebt: die Menschen, das Leben, seine Schönheit, unseren Geist.
Wir sind schnell über den in Europa wütenden Terror der Vergangenheit hinweggegangen. Madrid, London, Moskau, Kopenhagen, Paris, Thalys – wahrscheinlich habe auch ich etwas vergessen. Wir sind irgendwann zum Tagesgeschäft übergegangen und haben weitergemacht wie bisher. Wir haben die Politiker und Militärs machen lassen – aber wir, als Zivilgesellschaft, wir haben uns nicht geändert, wir sind nicht politischer geworden, nicht sozialer oder europäischer. Wir haben wenig unternommen, um unsere Jungen für Europa und seine Werte zu begeistern. Aber genau das, meine ich, müssen wir jetzt, um uns in diesem neuartigen Krieg auf neuartige Weise mit unseren Mitteln verteidigen zu können: als eine europäische Zivilgesellschaft, die erkannt hat, was sie im Innersten trägt: nicht Konsum und Kommerz, nicht Entertainment und Egoismus, sondern die geteilte Liebe zum Leben, zum Menschen, zur Schönheit, zur Natur…
Diese Liebe nötigt mich, vom Verteidigungsfall zu reden. Denn sie ist durch den Islamismus gefährdet. Ich möchte aber nicht, dass sie von den Schächern des Todes gemetzelt wird. Ich wehre mich dagegen, dass die religiös verbrämte Lebensfeindlichkeit der Dschihadisten unser Europa vergiftet. Ich will mich auch nicht einlullen lassen und mich mit mehr Sicherheitsmaßnahmen oder militärischen Operation zufrieden geben. Ich glaube, wir müssen wacher und entschlossener sein als bisher. Deshalb deute ich die eingetretene Situation als einen neuartigen Krieg.