Koronis auf dem Wildtiermarkt

Über die Seu­che, die Göt­ter und die Heilung

Einst, als die Mensch­heit noch jung war, hät­ten in einer Zeit wie die­ser die Regie­ren­den des Lan­des eine Gesandt­schaft zum Ora­kel von Del­phi geschickt, um den Gott Apoll um Rat zu bit­ten, wie die Coro­na-Kri­se zu bewäl­ti­gen sei. Was der Gott in einer Zeit wie die­ser sagen wür­de, lässt sich schwer erra­ten. Zum einen, weil die Rat­schlüs­se von Göt­tern seit jeher schwer erforsch­lich sind, zum ande­ren da das Ora­kel schon seit vie­len hun­dert Jah­ren außer Diens­tes ist. Aber nach allem, was wir über des Apol­lon Weis­sa­gun­gen wis­sen, dürf­te klar sein, dass die Pythia – sei­ne Ora­kel­pries­te­rin– wohl kaum so etwas gesagt hät­te wie: „Atem­schutz­mas­ken­pflicht für alle“ oder „Seht zu, dass ihr einen Impf­stoff fin­det“. Wahr­schein­lich hät­te sie gar nichts gesagt, son­dern nur auf die bei­den Inschrif­ten am Ein­gang des Tem­pels ver­wie­sen: „Erken­ne dich selbst!“ und „Nichts im Über­maß!“. Denn damit ist eigent­lich alles gesagt.

Wem das aber nicht genügt, dem hilft viel­leicht, was auch in alten Zei­ten hilf­reich war: ein Mythos. Und dafür blei­ben wir am bes­ten gleich in Del­phi. Denn es könn­te sein, dass der dort wal­ten­de Apol­lon tat­säch­lich etwas mit der Coro­na-Kri­se zu tun hat. Nicht so sehr, weil er womög­lich auch nach Tau­sen­den von Jah­ren noch sei­ner vor­ma­li­gen Gelieb­ten Koro­nis zürnt, die ihn einst mit einem Sterb­li­chen betrog – son­dern weil man in der alten Welt auch ande­re Fäl­le kann­te, in denen Apol­lon und sei­ne Schwes­ter Arte­mis den Men­schen Tod und Seu­chen schick­ten, wenn sie ele­men­ta­re Grund­re­geln des Lebens ver­letzt hat­ten und sich in Anma­ßung, Maß­lo­sig­keit und Ver­mes­sen­heit ergin­gen. So geschah es einst dem Heer der Grie­chen unter Aga­mem­non, der dem Pries­ter des Apol­lon sei­ne jung­fräu­li­che Toch­ter Chrys­e­is raub­te, wor­auf­hin die Pest im Lager der Hel­le­nen wüte­te. Zehn Tage und zehn Näch­te, weiß Homer (Ili­as I, 9ff.), schick­te Apol­lon sei­ne ihr tod­brin­gen­den Pfei­le in die Men­schen­lei­ber – bis der Seher Kal­chas sei­nem König offen­bar­te, dass er einem Gott gefre­velt hatte.

Fre­vel ist ein gutes Wort, das uns der alte Mythos zuspielt. Was, wenn auch Coro­na eine Fol­ge des Fre­vels ist? Was, wenn auch im Jah­re 2020 die Göt­ter den Men­schen zür­nen? Gewiss, sol­ches zu sagen schickt sich nicht in einer göt­ter­lo­sen Zeit. Aber als Gedan­ken­ex­pe­ri­ment wird man sol­ches den­noch wagen dür­fen, ja müs­sen. Wel­cher Fre­vel könn­te hier im Spie­le sein? Hier die Ant­wort, die viel­leicht ein wei­ser Mensch im alten Del­phi uns gege­ben hätte:

Arte­mis, die Göt­tin der unbe­fleck­ten Wild­nis, der jung­fräu­li­chen Natur, der unbe­rühr­ten, mäd­chen­haf­ten, zar­te Blü­te und des sil­ber­nen Mond­lich­tes, litt unter den Feu­ern der Maschi­nen, die das Men­schen­volk erson­nen hat­te, um sich Wald und Wild­nis zu unter­jo­chen. Seit der Titan Pro­me­theus den Göt­tern das Feu­er geraubt hat­te und – ganz wie Vater Zeus es vor­her­ge­se­hen hat­te – die von ihm damit beschenk­ten Men­schen sich anschick­ten, göt­ter­gleich zu wer­den, litt sie unter Atem­not und Hus­ten. Zuviel Koh­len­di­oxyd bekommt auch einer Göt­tin nicht – zumal der Göt­tin der Urwäl­der, der Glet­scher und der unbe­rühr­ten Ber­ge. Also floh sie sich zu ihrer Urgroß­mutter Gaia, Mut­ter Erde – die jedoch genau wie sie dar­nie­der­lag: zer­kratzt vom vie­len Frack­ing, geplagt vom vie­len Gift in ihren Tie­fen, geschun­den und miss­braucht von jenem Men­schen­tum, das sich mit Hil­fe des Tita­nen­feu­ers anmaß­te, als Herr und Meis­ter der Natur zu herr­schen. Urgroß­mutter und Uren­ke­lin teil­ten ihren Kum­mer, als Gai­as Toch­ter The­mis zu ihnen trat. Sie war von Gaia damit betraut, über das unwan­del­ba­re Grund­ge­setz des Lebens zu wachen: das Gesetz des Gleich­ge­wichts, der Har­mo­nie von allem. The­mis hör­te bei­der Kla­gen und stimm­te in sie ein: Ja, die pro­me­t­heisch gewor­de­nen Men­schen hat­ten den Tita­nen neue Kraft ver­lie­hen. Die hei­li­ge Ord­nung der Natur war bedroht. Das Gleich­ge­wicht muss­te wie­der­her­ge­stellt wer­den. Also schick­ten sie zum Hades und ersuch­ten Per­se­pho­ne, die Köni­gin der Unter­welt, ihr die Koro­nis zu schi­cken, die schon lan­ge den Wunsch heg­te, sich mit Apol­lon und den ande­ren Göt­tern zu ver­söh­nen. Sie wur­de von den Erin­ny­en – den Scher­gen Gai­as – unter­wie­sen, um die Maß­lo­sen zurecht zu wei­sen. Schließ­lich kam sie unter die Men­schen – auf einem Wild­tier­markt, wie Arte­mis – der die wil­den Tie­re hei­lig waren – nicht ohne Groll und Bit­ter­keit ver­füg­te. Die Men­schen nann­ten sie bei ihrem lati­ni­sier­ten Namen Coro­na. Sie brach­te den Men­schen den Hus­ten und den Tod. Vor allem den Alten. Denn das hat­te The­mis ihr ange­ord­net, damit das ältes­te aller Natur­ge­set­ze den Men­schen zu Bewusst­sein käme: Altes muss ster­ben, damit Neu­es gebo­ren wer­den kann. Denn letzt­lich ging es den drei gro­ßen Göt­tin­nen – der Gaia, ihrer Toch­ter The­mis und der Arte­mis – kei­nes­wegs dar­um, die Mensch­heit zu bestra­fen oder Leid über die Welt zu brin­gen. Ihnen ging es viel­mehr um die Hei­lung eines heil­los selbst­ver­ges­se­nen und sich von sei­nem Wesen abge­kehr­ten Men­schen­tums. Wes­halb wir nicht ver­ges­sen soll­ten zu erwäh­nen, dass die Göt­ter mit Koro­nis auch die Ret­tung schick­ten – denn sie war die Mut­ter des Askle­pi­os: des heil­kun­di­gen Got­tes der Medizin.

So hät­te man es sich in Del­phi wohl erzählt. Und viel­leicht hät­te man dort, am Hei­lig­tum des Apol­lon und der Gaia, den wei­te­ren Ver­lauf der Geschich­te so dargestellt:

Zeus, der leben­di­ge Gott des Lebens, bekam Wind von der Sache. Er sah das Elend auf der Erde – und er wuss­te, was gesche­hen war. Ja, er hat­te Recht behal­ten: das geraub­te Feu­er des Pro­me­theus hat­te Unheil ange­rich­tet, das Gleich­ge­wicht der Erde zer­rüt­tet, die Natur geschän­det und Gaia auf­ge­bracht. Sei­ne Herr­schaft, die gegrün­det war, das Leben der Natur und auch der Men­schen zur schöns­ten Blü­te zu ent­fal­ten – sie war nun bedroht, denn Groß­mutter hat­te buch­stäb­lich die Nase voll. Also hat­te Gaia ihre Toch­ter The­mis, die Wäch­te­rin des Gleich­ge­wichts, beauf­tragt ein­zu­schrei­ten. Tod und Krank­heit waren des­halb unaus­weich­lich. Doch so konn­te es nicht blei­ben. Ja, das Alte muss­te ster­ben, dar­an war kein Zwei­fel mög­lich. Aber eine neue Ord­nung muss­te her, um das Maß des Lebens neu­er­lich in Kraft zu set­zen und die Welt zu einem Ort der Schön­heit und Leben­dig­keit rei­fen zu las­sen. Dafür brauch­te es zwei sei­ner Söh­ne: den Apol­lon und Dio­ny­sos. Bei­de resi­dier­ten übri­gens gemein­sam in dem Hei­lig­tum von Del­phi, dort im schö­nen Tem­pel, in des­sen Vor­hal­le geschrie­ben stand: Erken­ne dich selbst!

Dio­ny­sos trieb län­ger schon sein Spiel auf Erden: schick­te Wahn­sinn denen, die sich der Leben­dig­keit ver­wei­ger­ten – wahn­sin­ni­ge Prä­si­den­ten in den USA oder auch in Bra­si­li­en, wo man Schwes­ter Arte­mis und ihre Wäl­der schän­de­te. Und den Men­schen sand­te er die süße Trance media­ler Dro­gen – und dazu einen nar­ko­ti­sie­ren­den Kon­sum­rausch, so dass sie betäubt dem eige­nen Unter­gang ent­ge­gen tau­mel­ten. Eine Art der Voll­nar­ko­se hat­te er der Welt ver­ab­reicht, in der gut­ge­mein­ten Hoff­nung, dass die Men­schen wil­li­ger das Leben ließn, wenn sie nichts mehr spür­ten. Aber damit war nun Schluss, seit Mut­ter Gaia die Koro­nis auf der Erde wan­deln ließ. Und Apol­lon ließ die frü­he­re Gelieb­te gern gewäh­ren: denn sie brach­te zwar den Men­schen Tod und Hus­ten, doch sie war ja auch die Mut­ter ihrer bei­den Soh­nes, des Askle­pi­os. Also schien ihm gut, dass sie damit zugan­ge war, die Maß­lo­sen, Ver­mes­se­nen und Anma­ßen­den auf­zu­we­cken und zur Selbst­er­kennt­nis zu bewe­gen. „Erken­ne dich selbst!“ und „Nichts im Über­maß!“ waren, wie wir wis­sen, sei­ne Leitsätze.

Also hiel­ten Dio­ny­sos und Apol­lon einen Rat. Und sie kamen dar­in über­ein, dass es rech­tens sei, dass das Alte ster­be – dass jedoch die Zeit gekom­men sei, eine neue Ord­nung auf der Erde zu errich­ten: eine neue Ord­nung, die die Göt­tin­nen nicht län­ger schän­det; eine neue Ord­nung, die das tita­ni­sche Feu­er ein­dämmt; eine neue Ord­nung, die den Men­schen nicht län­ger der Hybris erlie­gen lässt, selbst ein Gott, ein Homo Deus sein zu wol­len. Die Göt­ter kon­sul­tier­ten ihren Vater Zeus: „Eine neue Ord­nung für das Haus der Erde brau­chen wir“, so sprach Apol­lon. Genau genom­men sprach er Grie­chisch und rede­te von einem neu­en Nomos für den Oikos Gai­as. Er sprach also von einer neu­en Öko­no­mie, die dem zeit­los gül­ti­gen Maß des Lebens genü­gen müs­sen: dem ewi­gen Logos, wie er sag­te und wes­halb er sei­nen Vater Zeus dar­um ersuch­te, die alte Oiko­no­mia der Men­schen durch eine neue Oiko­lo­gia erset­zen zu dür­fen. „Dar­um muss“, ergänz­te ihn Dio­ny­sos, „nun das Alte ster­ben: um dem neu­en Platz zu machen. Mögen es die Men­schen nun erkennen!“

Zeus, der Gott des Lebens, nick­te ihnen sei­ne Zustim­mung. Die Tita­nen aber wit­ter­ten Gefahr. Es steht abzu­war­ten, wie die­se Geschich­te aus­geht. Es wird wohl davon abhän­gen, ob wir den Mut auf­brin­gen, uns von der Koro­nis in Fra­ge stel­len zu las­sen und dem Appell zur Selbst­er­kennt­nis zu fol­gen. Und es wird davon abhän­gen, ob wir den Mut auf­brin­gen, unse­re Maß­lo­sig­keit, Anma­ßung und Ver­mes­sen­heit hin­ter uns zu las­sen und neu­er­lich danach zu fra­gen, wie wir unse­rem eige­nen Wesen – unse­rer Leben­dig­keit – ange­mes­sen leben, arbei­ten und wirt­schaf­ten kön­nen. Dann näm­lich wird auch Askle­pi­os erschei­nen und uns alle hei­len; hät­te jeden­falls der wei­se Mensch im alten Grie­chen­land gesagt…

Chris­toph Quarch, 4. April 2020

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