Interviews zum Nahost-Konflikt…

Lie­be Geist­rei­che,
täg­lich errei­chen uns neue Nach­rich­ten und Bil­der aus dem Nahen Osten.
Waren es erst die Gräu­el­ta­ten paläs­ti­nen­si­scher Ter­ro­ris­ten an israe­li­schen Zivi­lis­ten, die uns erschüt­ter­ten, so sind es nun die Berich­te vom Lei­den und Ster­ben der Men­schen in Gaza. Wie kön­nen wir nicht unmit­tel­bar betei­lig­ten Euro­pä­er damit umge­hen?
Dar­über sprach ich im SWRak­tu­ell und im DLF­kul­tur. Ihr fin­det die Text­fas­sung nach­fol­gend.  
Einen fried­vol­len Gruß,
Chris­toph

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Herr Quarch, der Ter­ror gegen Isra­el und die Not im Gaza­strei­fen ent­zie­hen sich unse­rer Vor­stel­lung­kraft. Hat es dann über­haupt einen Sinn, die Hin­ter­grün­de die­ser Taten ver­ste­hen zu wol­len?
 
·        Ja, unbe­dingt. Der Psych­ia­ter Vik­tor Frankl sag­te ein­mal: „Der Wil­le zum Sinn bestimmt unser Leben.“ Ich glau­be er hat Recht. Wir Men­schen kön­nen gar nicht anders, als den Ver­such zu unter­neh­men, uns irgend­wie einen Reim auf die Ereig­nis­se zu machen.
 
Aber es gibt Stim­men, die den Ver­such, die Akte der Ter­ro­ris­ten zu ver­ste­hen als Zei­chen man­geln­der Loya­li­tät zu Isra­el deu­ten.
 
·        Die­je­ni­gen, die es schlimm fin­den, die Täter und ihre Taten ver­ste­hen zu wol­len, täu­schen sich über sich selbst. Auch sie wol­len ver­ste­hen – bzw. sie glau­ben, ver­stan­den zu haben, wol­len nun aber ihre Deu­tung nicht mehr durch ande­re Deu­tun­gen in Fra­ge stel­len las­sen. Ihre Deu­tung ist ein­fach. Sie lau­tet: Die Täter sind böse. Aber die­se Deu­tung bringt uns nicht wei­ter. Nur wenn wir die Hin­ter­grün­de und die Vor­ge­schich­te der Taten ver­ste­hen, wer­den wir den Boden gewin­nen, auf dem ande­re und bes­se­re Lösun­gen als der Ter­ror wach­sen kön­nen. Wenn wir hin­ge­gen den Wil­len zum Ver­ste­hen ein­stel­len, ent­zie­hen wir dem mensch­li­chen Mit­ein­an­der den Boden. Dann blei­ben nur noch Gewalt und Dik­ta­tur, um das Mit­ein­an­der der Men­schen zu koor­di­nie­ren. Des­we­gen sage ich: Wer das Ver­ste­hen­wol­len dif­fa­miert, tötet die Demo­kra­tie. Ich sage aber auch: Die Hin­ter­grün­de der Taten ver­ste­hen wol­len, heißt mit­nich­ten, Ver­ständ­nis für die Täter auf­brin­gen.
 
Was ist der Unter­schied zwi­schen einem Ver­ste­hen der Hin­ter­grün­de und dem Ver­ständ­nis für die Täter?
 
·        Die Hin­ter­grün­de einer Tat zu ver­ste­hen, heißt in kei­ner Wei­se, die­se Tat zu ent­schul­di­gen oder Ver­ständ­nis für den Täter auf­zu­brin­gen. Denn es gibt kei­ne Kasu­is­tik, die von einer hoch­pro­ble­ma­ti­schen israe­li­schen Sied­lungs­po­li­tik zu einem paläs­ti­nen­si­schen Ter­ror­akt führt. Es hie­ße, den Tätern ihr Mensch­sein abzu­spre­chen, wenn man ihnen unter­stell­te, dass sie nicht auch anders hät­ten han­deln kön­nen. Sie haben sie für den Ter­ror ent­schie­den – aus frei­en Stü­cken. Dafür müs­sen sie sich vor den Opfern und vor der Mensch­heit ver­ant­wor­ten. Mit Ver­ständ­nis kön­nen sie nicht rech­nen und auf Ver­ge­bung kön­nen sie nicht hof­fen. Ihre Taten sind unver­zeih­lich.

UN-Gene­ral­se­kre­tär Guter­res hat ver­sucht, nach den Ursa­chen für den Angriff zu suchen, und dabei auch in Rich­tung Isra­el gezeigt. Lässt das nicht gera­de Mit­ge­fühl mit einem trau­ma­ti­sier­ten Land ver­mis­sen?
 
·        Man kann nie­man­den zum Mit­ge­fühl ver­pflich­ten. Und man kann nie­man­dem ver­bie­ten, ver­ste­hen zu wol­len. Wenn jemand – wie Guter­res – sein Lei­den an dem Gesche­he­nen bekun­det und ver­sucht, sich einen Reim dar­auf zu machen, dann ist das zutiefst mensch­lich. Dar­an ist mora­lisch nichts aus­zu­set­zen. Dass die­ser Ver­such schei­tern oder unlieb­sa­me Sicht­wei­sen zuta­ge för­dern kann, bleibt ange­sichts der Kom­ple­xi­tät geschicht­li­cher Ereig­nis­se nicht aus. Aber so etwas müs­sen Demo­kra­ten aus­hal­ten kön­nen – zumin­dest dann, wenn sie nicht selbst betrof­fen sind und unter Schock ste­hen. Sys­te­me, in denen der Ver­such zu ver­ste­hen unter­bun­den wird und nur eine mög­li­che Sicht­wei­se zuge­las­sen wird, sind tota­li­tär.

Isra­els Gegen­schlä­ge haben die huma­ni­tä­re Lage für die Men­schen im Gaza­strei­fen dras­tisch ver­schlech­tert. Wie kann man über das Leid der Paläs­ti­nen­ser reden, ohne Din­ge gegen­ein­an­der auf­zu­rech­nen oder gar zu rela­ti­vie­ren? Schlie­ßen Mit­ge­fühl für Isra­el und Mit­ge­fühl für die Paläs­ti­nen­ser ein­an­der aus?
 
·        Israe­lis sind Men­schen und Paläs­ti­nen­ser sind Men­schen – und auch ich bin ein Mensch. Als Mensch aber kann ich sagen: Es ist mensch­lich zu lei­den, wenn ande­re Men­schen lei­den. Und es ist unmensch­lich, das Lei­den der einen mit dem Lei­den der ande­ren auf­rech­nen zu wol­len. Eben­so unmensch­lich ist es, das Lei­den eines Men­schen mora­lisch zu qua­li­fi­zie­ren – als ob es gutes oder böses Lei­den gäbe. Nein, es gibt nur Lei­den. An die­sem Punkt kön­nen wir von den alten Grie­chen ler­nen. Sie maß­ten sich nicht an, den schick­sal­haf­ten Ver­stri­ckun­gen des Lebens durch mora­li­sche Wer­tun­gen bei­zu­kom­men. Statt­des­sen waren sie sich der unab­wend­ba­ren Tra­gik des Lebens bewusst. Wir Heu­ti­gen täten gut dar­an zu begrei­fen, dass in Gaza eine Tra­gö­die statt­fin­det, die man durch mora­li­sche Wer­tun­gen nicht lösen kann.

Kri­tik an Isra­el wird oft als israel­be­zo­ge­ner Anti­se­mi­tis­mus auf­ge­fasst. Kann es „unver­brüch­li­che Soli­da­ri­tät” (Zitat Olaf Scholz) mit Isra­el geben, wenn unter Israe­li­schen Gegen­schlä­gen die Zivil­be­völ­ke­rung im Gaza­strei­fen lei­det?
 
·        Ob unver­brüch­li­che Soli­da­ri­tät wirk­lich mög­lich ist, weiß ich nicht. Dass man sie im Raum des Poli­ti­schen erklärt, ist hin­ge­gen nicht nur mög­lich, son­dern auch sinn­voll. Wir müs­sen uns doch Fol­gen­des klar­ma­chen: In einer tra­gi­schen Situa­ti­on wie die­ser kann man als Poli­ti­ker nicht umhin, sich schul­dig zu machen. So auch Olaf Scholz, der Tau­sen­den von Paläs­ti­nen­sern Unrecht tut, wenn er Deutsch­land ohne Wenn und Aber an die Sei­te Isra­els stellt. Täte er die­se nicht, wür­de er Tau­sen­den von Israe­lis Unrecht tun. Und wür­de er schwei­gen, täte er allen Betrof­fe­nen Unrecht. Kurz: Es ist ein Dilem­ma – und ich habe Respekt vor Olaf Scholz und sei­nem Mut, kon­se­quent den ein­zi­gen Weg zu ver­fol­gen, der vor dem Hin­ter­grund der deut­schen Geschich­te gebo­ten ist. Gleich­zei­tig aber muss unter­stri­chen wer­den, dass unver­brüch­li­che Soli­da­ri­tät nie­mals bedeu­ten kann, zu allem „Ja und Amen“ zu sagen. Die Ver­ant­wor­tung für einen Part­ner ver­langt, ihn auf mög­li­che Feh­ler auf­merk­sam zu machen und ihn zu kri­ti­sie­ren, wo eige­nes Wis­sen und Gewis­sen dies ver­lan­gen. Kurz: Soli­da­ri­tät ist kein blin­der Gehor­sam.
 
Sie spra­chen von einer Tra­gö­die. Gibt es irgend­ei­ne Auf­lö­sung?
 
·        Die grie­chi­sche Tra­gö­die lehrt: Ja, die gibt es; aber es gibt sie nur durch eine ech­te men­ta­le Dis­rup­ti­on der Betei­lig­ten. Dass sol­ches geschieht, ist nicht wahr­schein­lich, aber nicht unmög­lich. Die Hamas-Kämp­fer könn­ten kapi­tu­lie­ren und damit der Bevöl­ke­rung von Gaza viel Leid erspa­ren. Isra­el könn­te huma­ni­tä­re Kor­ri­do­re zulas­sen. Wir dür­fen nicht auf­hö­ren, an die Lös­bar­keit sol­cher Kon­flik­te zu glau­ben. Die Grö­ße des Men­schen besteht dar­in, dass er immer auch anders könn­te, selbst wenn er schei­tert. So ent­ste­hen tra­gi­sche Hel­din­nen und Hel­den. Es stimmt mich zutiefst trau­rig, dass sol­che Men­schen der­zeit nicht in Sicht sind.